Fast jeder vierte Arzt hält sich nicht an die evidenzbasierte Medizin. Das sagten sie selbst in einer Umfrage von Forschern der Universität und des Universitätsspitals Lausanne, an der fast tausend Ärzte teilnahmen (siehe unten). Ich reibe mir die Augen. Will denn nicht jeder evidenzbasiert handeln?
Wahrscheinlich ist die tatsächlice Zahl der Evidenz-Muffel sogar noch höher, denn diese machen sich wohl eher nicht die Mühe, einen Fragebogen zur evidenzbasierten Medizin auszufüllen. Und von Fleissigen hat sicher auch der eine oder andere gesagt, dass er sich an die evidenzbasierte Medizin halte, weil das zum guten Ton gehört und nicht weil es tatsächlich so Praxis ist.
Was genau unter evidenzbasierter Medizin zu verstehen ist, definierten die Lausanner Forscher so:
„The conscientious, explicit, and judicious use of current best evidence in making decisions with individuals and communities, integrating professional expertise with best available evidence from systematic research, and opinion / context of individuals / communities.“
Das deutsche „Evidenz“ ist eigentlich die falsche Übersetzung von „evidence“, denn es ist nicht offensichtlich, sondern es gibt „empirische Belege“. Genau! Und was kann ein Arzt gegen den „gewissenhaften, ausdrücklichen und umsichtigen Einsatz der aktuell besten empirischen Belege“ haben?
Wenn man die Resultate positiv interpretiert, könnte man auch sagen, dass es sich bei den 250 Ärzten nicht um Evidenz-Muffel handelt, sondern um die Ehrlichen. In Gesprächen wurden unter anderem Zeitmangel und fehlende Kompetenz im Umgang mit wissenschaftlichen Belegen als Barrieren angegeben. Nicht zuletzt setzen Patienten Ärzte unter grossen Druck, wenn sie unbedingt ein Antibiotikum oder ein MRI wollen, obwohl dies nicht sinnvoll ist.
Die Gleichgültigkeit in der Medizin gegenüber empirischen Belegen, mich immer wieder fassungslos:
- Ärzte behandeln nach Gutdünken mit dem Resultat, dass durch Überbehandlungen und Unterversorgung unnötig Patienten geschädigt werden.
- Patienten wollen lieber viel und vor allem viel Hightech als die beste Behandlung, die auch einmal Nichts-Tun beinhalten kann.
- Wissenschaftler erforschen nicht die für Patienten wichtigen Fragen, machen zu wenig systematische Überblicksstudien und veröffentlichen nur die „positiven“ Resultate.
- Ethikkommissionen und Zulassungsbehörden handeln unglaublich bürokratisch und setzen so unnötig hohe Hürden für klinische Studien.
- Politiker, Behörden, Spitäler und Ärzteorganisationen in der Schweiz wehren sich gegen konkrete Pläne Daten zu erheben, die zur Auswertung von Behandlungserfolgen nötig sind.
Für eine gute Medizin braucht es aber solide empirische Belege. Ich hoffe, da sind sich alle einig. Am diesjährigen Gesundheitsseminar des Schweizer Klub für Wissenschaftsjournalismus, habe ich mich zudem davon überzeugen lassen, dass für die Integration dieser Belege in die Behandlung vor allem die Ärzte selbst die Verantwortung tragen.
Es ist daher gut, dass die US-amerikanischen Ärztegesellschaften 2010 die „Choosing Wisely“-Kampagne gestartet haben, die weltweit an Fahrt gewonnen hat. Die Schweiz ist seit 2014 unter dem Namen „Smarter Medicine“ dabei. Sie stellen Listen mit häufig angewandten, unnötigen Behandlungen zusammen, die mehr schaden als nützen.
Choosing Wisely muss einfach gut sein…
Die Kamagne wirkt sicher keine Wunder, ist aber meiner Meinung ein guter Ansatz, weil es bei der Medizin-Kultur ansetzt. Um dem ganzen Nachdruck zu verleihen, können auch die Patienten mitmachen und ihren Ärzten jeweils folgende fünf Fragen stellen:
- Brauche ich diese Untersuchung/Behandlung wirklich?
- Was sind die Risiken?
- Gibt es einfachere/sicherere Möglichkeiten?
- Was passiert, wenn ich nichts tue?
- Wie viel kostet es?
Die am Gesundheitsseminar erwhänte Umfrage-Studie „Knowledge Translation in Medicine“ wird leider erst in den nächsten Monaten veröffentlicht. Der Leiter, Bernard Burnand, arbeitet am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Lausanne und ist Direktor von Cochrane Schweiz.