„Es gibt keine absolute Wahrheit.“ Mit solchen Sätzen und einem mitleidigen Lächeln wird meine Begeisterung für die Naturwissenschaft bisweilen abgetan. Nur schon das Wort „Wahrheit“ aus meinem Munde, lässt mich als aggressiven Bulldoggen der Naturwissenschaft dastehen. Als Beruhigungsmittel wurde mir ein Buch empfohlen – ein Klassiker der Wissenschaftssoziologie:
Laboratory Life – The Construction of Scientific Facts
Bruno Latour und Steve Woolgar, 1979
Zweitauflage von 1986 / Bruno Latour 2006 (Foto: Wikimedia Commons/Monika)
Naturgemäss begann ich die Lektüre nicht ganz frei von Vorurteilen. Immerhin habe sechs Jahre meines Lebens selbst Naturwissenschaft betrieben und dafür weitere vier Jahre Ausbildung auf mich genommen. Nun soll meine Arbeit die Menschheit kein Schrittchen der Wahrheit näher gebracht haben?
Laboratory Life überraschte umso positiver. Bruno Latour studierte während zwei Jahren die Naturwissenschaftlicher in einem Labor des berühmten Salk Instituts. Dort beobachtete er die Arbeit der Naturwissenschaftler scharf und dokumentierte sie akribisch.
Meine erste Erkenntnis: Es hat sich kaum etwas geändert in den vergangen 35 Jahren. Ein Labor ist eine Produktionsstätte für wissenschaftliche Artikel. Soziale Faktoren wie Glaubwürdigkeit, Finanzen und Hierarchie spielen eine wichtige Rolle. Latour hat dabei nichts übersehen.
Mehr interessierte mich aber die Antwort Latours und Woolgars, ob man mit Naturwissenschaft die Wahrheit finden kann oder zumindest objektive Aussagen machen kann. Leider wurde mir bis zum Schluss der 300 Seiten nicht klar, was die beiden Soziologen genau dazu meinten. Den Naturwissenschaftlern ging es damals offenbar ähnlich, wie die Autoren im Nachwort zur zweiten Auflage belustigt feststellen:
„The scientists main reaction to the book was that it was all rather unsurprising, if not trivial.“
Dass Naturwissenschaftler auch (nur) Menschen sind – selbstsüchtig, arrogant und fehlbar – das war offenbar auch schon 1979 bekannt. An die Naturwissenschaftler war das Buch denn auch gar nicht gerichtet. Das Zielpublikum waren die Erkenntnistheoretiker, die verstehen sollten, dass naturwissenschaftlichen Resultate nicht durch logisches Ableiten zustande kommen, sondern eben durch menschliche Faktoren im Labor bestimmt werden. Es heisst zum Beispiel:
„We do not wish to say that facts do not exist nor that there is no such thing as reality. In this simple sense our position is not relativist. Our point is that ‚out-there-ness‘ is the consequence of scientific work rather than its cause.“
Die Autoren sind also keine Relativisten, denen zufolge naturwissenschaftliches Wissen ausschliesslich innerhalb der Köpfe von Naturwissenschaftlern gültig ist und keinen direkten Bezug zur Realität hat. Man darf also von Fakten und Realität sprechen. Nur wird das im letzten Satz wieder verneint. Demzufolge wird die Realität („out-there-ness“) von den Naturwissenschaftlern konstruiert und nicht entdeckt. Mit anderen Worten: Wären die Naturwissenschaftler nicht da, gäbe es die jeweiligen Phänomene nicht.
Das verwirrt mich. Entweder ist die Gravitation von Naturwissenschaftlern konstruiert und folglich bis zu ihrer Erfindung inexistent oder sie ist immer da und Naturwissenschaftler müssen sie nur entdecken.
Ein Artikel in den Weiten des Internets, die ich konsultierte, um den Widerspruch aufzulösen, brachte mich zur Überzeugung, dass sich Latour völlig verrannt haben muss. Er habe gesagt, dass der Ägyptische Pharao Ramses II nicht an Tuberkulose gestorben sein kann, weil die Tuberkulose-Erreger erst 1882 durch den Arzt Robert Koch konstruiert wurde. Doch so sagte es Latour im zitierten Beitrag nicht:
On the Partial Existence of Existing and Nonexisting Objects
Bruno Latour In Biographies of Scientific Objects, 2000
Darin richtet sich Latour an die Wissenschaftshistoriker. Er nimmt das Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Louis Pasteur, der die Keimtheorie aufstellte und Félix Pouchet, der die Theorie der Spontanzeugung verteidigte. Zwar outete sich Latour darin als ein klarer Pasteurianer, der pasteurisierte Milch trinkt und Antibiotika schluckt. Das heisse jedoch nicht, dass Pouchets Theorie nicht mehr existiere, weil es auch heute noch Vertreter dieser Theorie gibt. Ob darunter auch Fachleute sind, sagte Latour nicht. Ich jedenfalls kenne keinen Anhänger der Spontanzeugung.
Latour wehrt sich nicht dagegen zu sagen: „Mikrobiologisch Analysen haben gezeigt, dass Ramses II am Tuberkulose-Erreger gestorben ist.“ Er wehrt sich aber dagegen, dass der Zusatz „mikrobiologische Analysen haben gezeigt“ weggelassen wird. Man müsse die Aussagen immer im Kontext betrachten. Die Todesursache von Ramses II könne man nur innerhalb eines Mikrobiologie-Labors nachweisen und dieser Fakt ist deswegen konstruiert. Sollte einmal die Fähigkeit steril zu Arbeiten (und DNA-Analysen durchzuführen) verloren gehen, könnte die Tuberkulose nicht mehr diagnostiziert werden.
Jetzt ist erst mal eine Pause nötig…
Einerseits kann es doch nicht sein, dass unser Wissensstand an der Todesursache von Ramses II etwas ändert. Andererseits hat Latour natürlich recht, dass unser heutiger Wissenstand unseren heutigen technischen Möglichkeiten entspricht. Doch kein vernünftiger Mensch wird heute behaupten, dass unser Wissen definitiv ist und dass die Keimtheorie von Pasteur in ihrer Gesamtheit für alle Zeiten der Wahrheit entspricht. Trotzdem sollte es heute jedem vernünftigen Menschen möglich sein, sämtliche Schritte nachzuvollziehen, weshalb die Theorie der Spontanzeugung nicht mehr haltbar ist und die Keimtheorie die bessere Beschreibung der Realität ist. So wie es ja Latour selbst auch gemacht hat. Was soll also diese Relativierung?
Entweder zweifelt Latour daran, dass Erkenntnistheoretiker, Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftssoziologen vernünftige Menschen sind, die sehen, dass auch Naturwissenschaft ihre Grenzen hat. Oder Latour möchte die Autorität von naturwissenschaftlichem Wissen untergraben, die zweifellos sehr gross ist. So ähnlich scheint auch der Philosoph Paul Boghossian es so zu sehen:
What ist social construction?
Paul Boghossian, Times Literary Supplement, 2001
Dieser klar geschriebene Aufsatz hat mir geholfen zu verstehen, worum es Latour gehen könnte. Trotzdem bin ich mir nicht ganz sicher, ob Boghossian Latour wirklich verstanden hat.
Überhaupt scheint mir, dass viele, die den Soziologen Latour zitieren, um damit ein naturwissenschaftliches Argument zu entkräften, ebenfalls nicht verstehen, was Latour wirklich gemeint hat. Mir kommt der Verweis eher wie ein Totschlagargument vor, um sich nicht mit dem vorgebrachten Argument befassen zu müssen. Die Kritik gewisser Personen an der Klimawissenschaft scheint Latour denn auch zu einem gewissen Umdenken bewogen zu haben, wie ein beinahe poetischer Text von ihm suggeriert:
Why Has Critique Run Out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern
Bruno Latour in Critical Inquiry, 2004
Ich für meinen Teil werde jedenfalls weiterhin mit gutem Gewissen von Wahrheit und objektiven Fakten sprechen, wenn es darum geht die Milch zu pasteurisieren oder Antibiotika zu schlucken. Wenn jemand Argumente hat, warum dies nicht der Wahrheit entspricht, lasse ich mich gerne von etwas anderem überzeugen. Um die Keimtheorie umzustossen, müssen dafür aber schon gute und gewichtige Argumente vorgebracht werden.
Ein weiterer Klärungsversuch Latours:
„Nun wurden die Science Studies in ihren Anfängen in den 1980er Jahren von vielen Wissenschaftlern nicht nur für eine Kritik an der wissenschaftlichen Gewissheit gehalten – was er tatsächlich war -, sondern auch an gesicherten Erkenntnissen – was er keineswegs war. Wir wollten verstehen, durch welche Instrumente, welche Maschinerie, welche materiellen, historischen, anthropologischen Bedingungen es möglich ist, Objektivität hervorzubringen. In unseren Augen hatte die wissenschaftliche Objektivität einen zu wichtigen Wert, um ihr als einzige Verteidigung das zu lassen, was man mit einem Allzweckwort den ‚Rationalismus‘ nennt und dessen Wert allzuoft darin besteht, jede Diskussion abzubrechen, indem allzu hartnäckige Gegner der Irrationalität bezichtigt werden.“
Zitat aus „Existenzweisen – Eine Anthropologie der Modernen“ diskutiert auf:
http://scienceblogs.de/primaklima/2014/12/18/bruno-latour-eine-schockierende-frage-gerichtet-an-einen-klimatologen/
Was der Unterschied zwischen „wissenschaftlicher Gewissheit“ (schlecht) und „gesicherten Erkenntnissen“ (gut) ist, bedarf für mich allerdings noch einer Erklärung. Wenn Latour hier einen Unterschied zwischen „absolutem Wahrheitsanspruch“ gegenüber dem „besten zurzeit verfügbaren Wissen“ macht, bin ich mit ihm einverstanden.