Rheuma ist eine Volkskrankheit. Alleine an Arthritis, der wohl bekanntesten Rheumaart, erkranken in der Schweiz rund 10% aller Menschen ab 55 Jahren. Das Gelenksleiden ist allerdings historisch gesehen keine Neuheit: Bereits seit Jahrhunderten leiden Menschen an den dutzenden verschiedenen Varianten dieser Krankheit, und bis heute hat die medizinische Forschung kein Patentrezept gegen Rheuma entdeckt. Höchste Zeit, sich mit der Thematik im Rahmen des Café Scientifique etwas eingehender zu beschäftigen – mit tatkräftiger Unterstützung dreier Experten aus Forschung und Praxis.
Rheumaformen und Behandlungsmöglichkeiten
Einer der drei war Prof. Diego Kyburz von der medizinischen Fakultät der Universität Basel. Er vermittelte den Zuhörerinnen und Zuhörern grundlegendes Wissen über jene Krankheit, deren Name erstmals 1642 in einem Werk von Guillaume de Baillou auftauchte und auf Griechisch soviel wie „Fluss“ oder „Strömung“ bedeutet. Unter den Dachbegriff Rheuma werden viele verschiedene Krankheiten gefasst, was ihn etwas unscharf werden lässt. Kyburz unterschied deshalb zur besseren Übersicht drei Rheumagruppen: die entzündlichen Rheumatismen, degenerative Erkrankungen (z.B. Arthrose) sowie das Weichteilrheuma (z.B. die sogenannte Fibromyalgie, ein Schmerz in der Muskulatur). Die häufigste Form ist jedoch das Gelenksrheuma, die Arthritis, von der in der Schweiz momentan rund 70’000 Menschen betroffen sind. Sie kommt in allen Altersgruppen vor, jedoch vermehrt bei den 40-60jährigen. Und – so zeigte später eine Statistik von Traudel Saurenmann, einer weiteren Expertin in der Runde – es sind weit überwiegend Frauen, die unter Arthritis leiden. Die bekanntesten Symptome der Arthritis sind der Gelenkschmerz in Ruhelage oder in der Nacht, die Steifigkeit am Morgen, Gelenkschwellungen sowie Probleme, mit der Hand etwas zu greifen.
Bei solchen Volksleiden liegt natürlich jeweils ein besonderer Fokus auf der Behandlung der Krankheit bzw. auf den Erkenntnissen der medizinischen Forschung. Kyburz erklärte, Rheuma sei „bis heute nicht heilbar, nur behandelbar“. Methotrexat gilt als das bekannteste Basismedikament zur Behandlung, Leflunomid und Sulfasalazin sind weitere. Das Problem all dieser Wirkstoffe besteht jedoch darin, dass sie nicht bei allen Patienten und bei allen Rheumaarten gleich gut wirken. Die Forschung ist deshalb laut Kyburz weiterhin aktiv dabei, „Krankheitsmechanismen und Zusammenhänge besser zu verstehen. Die Thematik ist aber so komplex, dass sie auch weiterhin Einiges an Forschung – auch an klinischer Forschung – benötigt.“ Gleichwohl tappe die Forschung nicht im Dunkeln, wie es der Titel der Veranstaltung suggeriere, so Kyburz’ abschliessende Bemerkung.
Rheuma bei Kindern
Etwas tiefer in mögliche Behandlungsformen tauchte Prof. Traudel Saurenmann ein, eine Expertin für den oft etwas vergessenen Bereich des Rheuma bei Kindern, im Fachjargon „Juvenile idiopathische Arthritis“ (kurz: JIA) genannt. Rheuma wird meist mit älteren Personen assoziiert, dennoch sind immerhin 1-2 von 1000 Kindern ebenfalls von Rheuma betroffen. Auch bei Kindern ist die Krankheit nichts Neues, wie Saurenmann ausführte. Bereits aus dem Mittelalter sind erste Fallmeldungen bekannt, und 1896 setzte sich George Frederic Still in einer umfassenden medizinischen Arbeit explizit mit dem Thema auseinander, weshalb die Krankheit lange Zeit als Morbus Still bezeichnet wurde. Bei Kindern zeigt sich gegenüber den Erwachsenen ein gegensätzlicher Trend, denn je kleiner die Kinder desto häufiger die Erkrankung. Bei den Erwachsenen steigt das Risiko dagegen mit zunehmendem Alter. Es sind somit vor allem die 1-2jährigen, die gefährdet sind, wobei die verschiedenen Untergruppen der JIA in unterschiedlichen Altersstufen auftreten, wie Saurenmann anhand einer komplexen Statistik demonstrieren konnte.
Die fürs Rheuma typischen Entzündungen greifen sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern die Gelenke an und verursachen Schmerzen. Bei Kindern kommt freilich noch eine weitere Dimension hinzu, wie Saurenmann anhand verschiedener Bilder zeigen konnte: Die durch das Rheuma angegriffenen Gelenke werden im Wachstum fehlgebildet, es kommt zu massiven Wachstumsstörungen und Deformationen. Besonders die Kiefergelenke sind davon häufig betroffen (Mikrognathie und Retrognathie), ein gestörtes Wachstum des Unterkiefers und des Kinns hat eine völlige Unterentwicklung derselben zur Folge. Saurenmann zeigte dazu Bilder eines Mädchens im Profil, das die Zuhörerinnen und Zuhörer aufstöhnen liess. Eine weitere Besonderheit der JIA sind Augenentzündungen (Uveitis), die symptomfrei verlaufen und gerade deswegen so tückisch sind. Jedes Kind, das unter JIA leidet, muss deshalb regelmässig zum Augenarzt, weil eine unbehandelte Uveitis in etwa 50% der Fälle zu massiven Sehbehinderungen oder gar Blindheit führt.
Kleine Revolution in der Forschung
Die Behandlung von Rheuma, um den Strang wieder aufzugreifen, ist gemäss Saurenmann „auch bei Kindern sehr schwierig, viele Medikamente haben Nebenwirkungen“. Lange Zeit galt Physiotherapie als wirksames Gegenmittel, dadurch wurde die Krankheit jedoch nicht aufgehalten. In den 90er-Jahren brachte das schon von Kyburz erwähnte Methotrexat Besserung, doch erst die Entdeckung der TNF-Blocker im Jahr 1999 bedeutete für die Forschung eine „kleine Revolution“, wie sich die Kinderärztin ausdrückte. Anhand einer weiteren Statistik konnte Saurenmann zeigen, dass die Anzahl an Konsultationen bei Ärzten aufgrund von entzündeten Gelenken seit 1999 deutlich gesunken ist, was direkt mit dem Aufkommen der TNF-Blocker zusammenhängt. Die neuen Medikamente sind also sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen durchaus erfolgreich.
Kyburz ergänzte, die TNF-Blocker hätten es ermöglicht, nicht mehr nur die Symptome zu bekämpfen, sondern die Krankheit als Ganzes von Beginn weg zu unterdrücken. Allerdings bringen auch die TNF-Blocker keine eigentliche Heilung von der Krankheit, was eine lebenslange Behandlung nötig macht. Bei Behandlungskosten von rund 24’000 Franken im Jahr ist das keine günstige Angelegenheit, doch, wie Saurenmann anmerkte: „Das lohnt sich definitiv. Die Behandlung mit TNF-Blockern ermöglicht rheumakranken Kindern heute ein normales Wachstum ohne grosse Einschränkungen. Es ist ein Quantensprung gegenüber früher.“ Kyburz sprach ergänzend von einer „Aufbruchstimmung“, die in der Forschung seit der Entdeckung der TNF-Blocker herrsche.
Rheuma und Kunst
Das Leben mit der Krankheit, und ganz besonders das Leiden, das sie verursacht, schilderte schliesslich Prof. André Aeschlimann, Chefarzt der Rheumatologie in der Rehaklinik Bad Zurzach. Er wählte dafür eine interessante Perspektive. „Kunst und Rheuma“ lautete sein Beitrag, in dem er vier bekannte Maler portraitierte, die allesamt mit Arthritis zu kämpfen hatten und die sich in vielen ihrer Werke mit der Krankheit auseinandersetzten. Das erste Beispiel war Peter Paul Rubens (1577-1640), der im 46. Lebensjahr an Rheuma erkrankte und dennoch – mithilfe zahlreicher Assistenten – rund 600 Gemälde produzierte. Eines davon ist „Die drei Grazien“. Schaut man sich dieses Bild genau an, so erkennt man bei der Frau links im Bild deutlich eine Deformation der Hand, was auf Polyarthritis schliessen lässt. Rubens hat solche Zeichen auf vielen Bildern hinterlassen, wie Aeschlimann zu berichten wusste.
Das zweite Beispiel war Alexej von Jawlenski (1864-1941), der im Alter von 65 an einer kompletten Polyarthritis litt, die ihm grosse physische und psychische Schmerzen verursachte. Jawlenski selbst sprach von einem „zermürbenden Schmerz“. Diesen übertrug er auch auf viele seiner Arbeiten, zum Beispiel auf sein Werk „Stummer Schmerz“ von 1933, das ein offensichtlich leidendes Gesicht zeigt. Über seine Kunst äusserte Jawlenski einst einen in diesem Zusammenhang bemerkenswerten Satz: „Ich male nicht das, was ich sehe, aber das, was ich fühle.“
Raoul Dufy (1877-1953) war ein weiterer Maler, der unter Arthritis litt. Er hatte Gelenkschmerzen schon als Kind, mit 58 brach dann die Polyarthritis aus. Damals war es eine gängige Behandlungsmethode, den Rheumapatienten hohe Mengen an Cortison zu verabreichen, was zwar gegen das Rheuma half, aber mit massiven Nebenwirkungen einherging. Auch Dufy unterzog sich einer solchen Cortisonbehandlung, und trotz Nebenwirkungen ging es ihm zeitweise besser, was er in seinem Werk „La cortisone“, ein fröhliches Bild, das einen schönen Blumenstrauss zeigt, verarbeitete.
Schliesslich nannte Aeschlimann Pierre-Auguste Renoir (1841-1919) als einen weiteren prominenten Rheumapatienten. Renoir war mit 46 Jahren von Rheuma betroffen und benötigte bald schon einen Rollstuhl. Die Besonderheit bei Renoir war, dass er trotz grosser Schmerzen immer positiv gestimmt war und die Not zu einer Tugend machte. Oftmals wachte er nachts unter grossen Schmerzen auf, woraufhin er sich an die Arbeit machte und – im Gegensatz etwa zu Jawlenski – wunderbare, schöne Bilder produzierte. Aeschlimann weiss aus seiner alltäglichen Arbeit in der Rehaklinik, dass verschiedene Tätigkeiten (zum Beispiel Gartenarbeit) ein sehr gutes Mittel sind, um den Schmerz zumindest kurzzeitig zu vergessen. Nicht zuletzt hat dies eine psychische Komponente, denn nicht selten erhöht die Angst vor dem Schmerz den Schmerz noch zusätzlich. „Sinnvoll sind alle Massnahmen, die kreativ sind“, äusserte sich Aeschlimann im Brustton der Überzeugung.
Die Forschung hat noch Luft nach oben
Eine Dame aus dem Publikum wollte in der folgenden Plenumsdiskussion wissen, ob nicht auch soziokulturelle oder demographische Faktoren bei der Krankheit eine Rolle spielten. Kyburz antwortete, dass die Rheumaarthritis auf der ganzen Welt vorkomme, bei bestimmten Ethnien wie beispielsweise bei den amerikanischen Indianern jedoch gehäuft auftrete. Aeschlimann nahm den Faden auf und bemerkte, dass dies eine interessante Komponente sei, da sich ansonsten bei anderen Krankheiten teilweise massive Unterschiede zwischen verschiedenen Ethnien zeigten. Saurenmann relativierte Kyburz’ Statement jedoch in Bezug auf die JIA, die anscheinend vor allem bei europäischen Kindern vorkomme. Auch bei den Begleiterscheinungen zeigten sich Unterschiede: In Japan komme die Uveitis beispielsweise nicht vor.
Eine weitere Frage betraf den Einfluss der Ernährung auf das Rheuma. Kyburz bemängelte die geringe wissenschaftliche Evidenz in diesem Bereich. Er konnte jedoch berichten, dass Einflüsse der Nahrung auf das Entzündungsniveau nachgewiesen wurden. Aeschlimann ergänzte, dass früher das Fasten als eine gängige Massnahme gegolten habe. Dies habe zwar jeweils nur kurzfristig etwas geholfen, zeige jedoch, dass die Nahrung gewisse Effekte auf das Rheuma haben muss. Saurenmann war es abschliessend wichtig zu ergänzen, dass solche Fälle nicht über den letztlich doch geringen Einfluss der Nahrung hinwegtäuschen sollten. Eine Umstellung der Ernährung könne höchstens eine flankierende Massnahme sein.
Aus all diesen Statements scheint hervorzugehen, dass die Medizin das Rheuma in all seinen Variationen noch immer nicht vollständig verstanden hat und erklären kann. Gerade bei den verschiedenen Einflussfaktoren, beispielsweise auch beim Einfluss der Psyche auf die Krankheit, sowie bei den Behandlungs- und Heilungsmethoden besteht für die Forschung noch reichlich Luft nach oben. Doch wie Aeschlimann in Bezug auf die Forschung in Folge der Entdeckung der TNF-Blocker hoffnungsvoll verkündete: „Wir haben eine absolut faszinierende Ära vor uns.“
Dieser Artikel wurde von der Universität Basel in Auftrag gegeben und bezahlt.