Fussball ist die mit Abstand populärste Sportart der Welt. Fussball zieht Millionen von Aktiven und Beobachtern in seinen Bann. Fussball ist Faszination, Emotion, gar Religion. Fussball, Fussball, immer Fussball. Angesichts der Omnipräsenz dieses Sports in unserem Alltag stellt sich die Frage, was genau ihn eigentlich so populär macht und was ihn von anderen, weniger bekannten Sportarten unterscheidet? Das Café Scientifique wollte diesen Fragen auf den Grund gehen und lud zur Unterstützung wie immer eine dreiköpfige ExpertInnenrunde ein: Die ehemalige NLA-Fussballerin Loretta Müller, den Sportwissenschaftler Oliver Faude und – auf den ersten Blick vielleicht etwas überraschend – die Kunsthistorikerin Margret Ribbert vom Historischen Museum Basel.
Zum Schattendasein des Frauenfussballs
Den Anfang machte Loretta Müller, die von ihrem Werdegang als Fussballerin und ihrem Aufstieg bis in die höchste Schweizer Spielklasse berichtete. Ihre Geschichte war auch die Geschichte der schrittweisen Professionalisierung des Frauenfussballs in der Schweiz. Nachdem Müller 1993 den Juniorinnen des FC Concordia beigetreten war, spielte sich die Frauschaft schrittweise von der 2. Liga hoch bis in die Nationalliga A. Als ein Schlüsselmoment des Frauenfussballs generell bezeichnete Müller das Finale der Frauenfussball-Weltmeisterschaft 1999 in den USA zwischen den Gastgeberinnen und China, dem gut 90‘000 Zuschauer beiwohnten. In diesem Moment wurde Müller das enorme Potenzial des Frauenfussballs klar. Ein persönliches Highlight war für Müller das Cup-Halbfinale 2008 mit dem FC Concordia vor 450 Zuschauern: „Das war in meiner Karriere der Zuschauerrekord“, wie sie sagte. Mit dem darauffolgenden Aufstieg in die höchste Schweizer Spielklasse 2008 und der Übernahme des gesamten Kaders durch den FC Basel im Jahr 2009 war eine starke Professionalisierung verbunden, die sich vor allem in den häufigeren Trainingseinheiten und den ersten Punkteprämien bemerkbar machte. Trotzdem konnte weiterhin keine Spielerin auch nur annähernd vom Fussball leben, im Gegenteil: Die Kosten überstiegen die Prämien bei Wietem. Aber durch die Prämien änderte sich die Stimmung innerhalb des Teams, wie Müller anmerkte. Plötzlich stand bei einigen Spielerinnen mehr das Ego als die Gruppe im Vordergrund. Als dann 2010 eine neue Trainerin das Frauenteam des FC Basel übernahm, wurde Müller aussortiert – das Ende ihrer Karriere in der obersten Spielklasse.
Als den grössten Unterschied zwischen dem Männer- und dem Frauenfussball in der Schweiz bezeichnete Müller die öffentliche Wahrnehmung, die in keinem Vergleich zueinander stehe. Warum das aber so ist, konnte Müller auch nicht richtig erklären: „Vielleicht hat es mit der Geschichte und der Entwicklung zu tun oder mit den bestehenden Machtverhältnissen.“ Und dies, obwohl der Frauenfussball „taktisch und technisch mindestens ebenbürtig“ sei, wie Müller anmerkte.
Fussball und Gesundheit
Der Sportwissenschaftler Oliver Faude repräsentierte anschliessend gewissermassen den Spitzenfussball der Männer, wenn auch nicht als Spieler. Faude war zwischen 2004 und 2011 als Leistungsdiagnostiker für die Deutsche Fussball-Nationalmannschaft tätig, seine Aufgabe bestand darin, das ideale Gleichgewicht zwischen Trainingsleistung, Regeneration und Verletzungsprävention zu finden. Was er in diesen Jahren praktisch tat, unterlegte er anschliessend wissenschaftlich im Rahmen seiner Habilitationsschrift.
Faude engagiert sich heute in wissenschaftlichen Studien mit der Verletzungsprävention im Kinderfussball. „Kinder und Jugendliche machen den Grossteil der aktiven Fussballer weltweit aus“, wie Faude seinen Forschungsschwerpunkt erklärte. Faudes Studien sind Teil eines internationalen Forschungsprogramms, das den Umgang mit Verletzungen bzw. deren Verhinderung optimieren soll. Selbst die Fifa ist in diesem Bereich aktiv, ihr F-MARC-Programm (FIFA Medical Assessment Research Center) läuft bereits seit 1994 und hat ebenfalls das Ziel, „wissenschaftlich fundierte Grundlagen zum Schutz der Gesundheit der Spieler“ zu erarbeiten, wie sie auf ihrer Homepage schreibt. Gerade in Zeiten zunehmender Beanspruchung der Spitzenfussballer, die im Extremfall alle drei Tage einen Ernstkampf bestreiten und dazwischen oft tausende Kilometer reisen müssen (der FC Basel beispielsweise hat gerade eine Reise nach Valencia hinter sich), kommt diesem Punkt hohe Bedeutung zu.
Fussball und Religion
Einen besonderen Blick auf den Fussball warf zum Abschluss Margret Ribbert, die Kuratorin des Historischen Museums Basel, die sich gemäss eigener Aussage „nicht hätte träumen lassen, dass ich mal vor Publikum über Fussball sprechen würde“. Denn persönlich interessiert sie sich nicht besonders für diesen Sport. Da das Historische Museum jedoch eine Ausstellung zum Thema „Fussball, eine Glaubenssache“ (Arbeitstitel) plant, musste sie sich wohl oder übel mit dem Fussball beschäftigen. Ihre Aufmerksamkeit galt während ihrer Recherchen insbesondere der Überschneidung von Fussball und Religion.
„Es geht im Fussball um die grossen Emotionen wie Treue und Liebe“, leitete Ribbert ein. Dies zeigen aktuelle Beispiele der Werbeslogans von Mannschaften aus der 1. Fussball-Bundesliga: „Wir leben dich“ (FC Schalke04), „Echte Liebe“ (Borussia Dortmund), „Ich bereue diese Liebe nicht“ (1. FC Nürnberg). Hinzu kommt beim Fussball die besondere Bedeutung des Gemeinschaftserlebnisses. Im Fährwasser der Emotionen befindet sich auch die mitunter sakrale Verehrung der grossen Fussballstars – Ribbert zeigte Bilder aus Argentinien von Altären mit Maradona-Fotografien. Und hier stiess Ribbert zu ihrer eigentlichen These vor: Der Vermischung von Fussball und Sakralität, die sie an zahlreichen Beispielen plausibilisierte. Ribbert erklärte diese Gemengelage mit dem Bedürfnis, einem besonderen sportlichen Ereignis eine angemessene Bedeutung zuzuweisen. Bestes Beispiel dafür ist der legendäre Fussballkommentator Herbert Zimmermann, der 1954 das Finale der Weltmeisterschaft zwischen Deutschland und Ungarn kommentierte und dabei den herausragenden deutschen Torwart Toni Turek als „Fussballgott“ bezeichnete, wofür er sich im Nachhinein öffentlich entschuldigen musste (heute ist der Begriff freilich in aller Munde). Auch der Reliquienkult ist beim Fussball weit verbreitet: Steigt beispielsweise eine Mannschaft in die höchste Liga auf, stürmen oftmals die Fans nach dem Schlusspfiff auf den Rasen, um sich zur Erinnerung Teile des Tornetzes oder ein Stück Rasen zu sichern.
Die Frage, ob der Fussball eine Religion oder zumindest ein Religionsersatz ist, wird aber dann schwierig, wenn man nach dem transzendenten Bezug des Fussballs fragt. „Diesen Trumpf haben noch immer die Kirchen in der Hand“, meinte Ribbert. Trotzdem kann der Fussball in Zeiten der gesellschaftlichen Modernisierung und Individualisierung zu einem neuen, bindenden Element werden: „Kirchen haben heute nicht mehr die bindende Kraft wie früher. Da kann der Fussball manchen Menschen einen gewissen Sinn geben“, erklärte Ribbert.
Fussball und Faszination
An diesem Punkt näherte sich die Diskussion zum ersten Mal der ursprünglichen Frage nach der immensen Popularität des Fussballs, nach dem Grund für dessen Faszination an. Das sinnstiftende Element in der modernen, enttraditionalisierten Gesellschaft wäre eine mögliche These. Eine weitere Erklärung sah Ribbert in dem auch räumlich nahen Beisammensein von Sieg und Niederlage. „Es sind auch diese dramatischen Momente, zusammen mit dem Massenereignis, die die Faszination des Fussballs ausmachen“, so die Kunsthistorikerin. Das erklärt jedoch noch nicht, weshalb gerade der Fussball – und nicht andere Mannschaftssportarten wie beispielsweise Handball, Basketball oder Cricket – zum globalen Massenphänomen wurde. Der Grund hierfür könnte die relativ einfach Spielanlage sein (Fussball kann man überall irgendwie spielen, auch das Regelwerk kann vereinfacht werden) und die im Vergleich zu anderen Sportarten (Tennis, Basketball) geringeren technischen Voraussetzungen. All dies würde jedoch prinzipiell auch für den Handballsport gelten. Abschliessend konnte die Frage deshalb nicht beantwortet werden. Auch die exakten Gründe für die Faszination des Fussballs im Vergleich zu anderen Sportarten blieben am Ende ein wenig in der Schwebe.