Kohlenstoff ist eine Materie der Vergangenheit, der Gegenwart und vor allem auch der Zukunft. Eine Materie, die in den unterschiedlichsten Bereichen Verwendung findet – vom Bleistift über Autopneus bis hin zu Computerchips und Kosmetikartikeln. Auch der menschliche Organismus besteht zu einem guten Teil aus Kohlenstoff. Über verschiedene gegenwärtige und zukünftige Anwendungsmöglichkeiten des Kohlenstoffs sprachen am letzten Wissenschaftscafé des Jahres ausnahmsweise gleich vier Experten aus verschiedenen Teilbereichen der Physik und der Chemie. „Sie hören schon: Es wird kompliziert heute“, wie Moderator Christoph Keller angesichts dieses Experten-Lineups süffisant bemerkte.
Der Blick in die Zukunft
Um dem ein wenig entgegenzuwirken, bot Christian Schönenberger, Professor für Experimentalphysik an der Universität Basel, als erstes eine kurze Einführung in die Welt des Kohlenstoffs. Er führte die Liste der Anwendungsbereiche und Eigenschaften des Kohlenstoffs fort und wies darauf hin, dass auch Diamanten aus Carbon bestehen. „Das zeigt, dass das Phänomen Kohlenstoff durchaus interessant ist“, schmunzelte der Physiker. Anhand von Bildern einer Bleistiftmine unter dem Elektronenmikroskop konnte er den faszinierten Hörerinnen und Hörern im Saal die Ringstruktur der Kohlenstoff-Atome bei einer Vergrösserung von 4 Nanometern zeigen. Daraufhin leitete er über zu den sogenannten Nanoröhrchen (Nano Tubes), das sind zylinderförmige Kohlenstoffröhrchen, die in den 1990er-Jahren entdeckt wurden und aus denen beispielsweise Carbonfasern gefertigt werden. Andere Anwendungsbereiche sind Batterien (Superkondensatoren) oder Autopneus. Von grosser Relevanz könnten in Zukunft ausserdem die Graphene werden. Dabei handelt es sich um Monoschichten aus Graphit, die über besondere elektrische Leitfähigkeiten verfügen und deshalb speziell für die Computertechnik oder für die Weiterentwicklung von Touchscreens von Interesse sein dürften. Als weitere dankbare Abnehmer dieser atomar dünnen und dennoch erstaunlich reissfesten Folien könnten sich zweifelsohne auch Kondomhersteller erweisen.
Der Blick zurück
Einen ganz anderen Zugang zum Kohlenstoff hat Irka Hajdas vom Labor für Ionenstrahlphysik an der ETH Zürich. Ihr Beitrag drehte sich um die sogenannte 14C-Datierung, auch bekannt als Radiokarbonmethode. Deren Ziel ist die Bestimmung des Alters verschiedener archäologischer Fundgegenstände. Hajdas verwendete das berühmte Beispiel von Ötzi und erklärte, dass es die Radiokarbonmethode möglich mache zu sagen, wann ungefähr Ötzi gestorben sei. Wie das geht? Die Idee, die dahintersteckt, ist leicht nachvollziehbar. Kohlenstoff kommt in drei Isotopen vor, nämlich als stabile 12C- und 13C-Atome sowie – in äusserst geringer Menge – als radioaktives 14C-Atom. Letzteres zerfällt im Laufe der Zeit. Sobald ein Organismus wie eben Ötzi stirbt, beginnt die Uhr zu ticken. Nach 5000 Jahren ist die Hälfte der 14C-Atome verschwunden, nach 10’000 Jahren sind nur noch 25 Prozent der ursprünglichen Anzahl 14C-Atome übrig. Hajdas’ Aufgabe besteht darin, mithilfe komplexer Vorgänge im Labor die 14C-Atome aufzuspüren und deren Anzahl zu den stabilen 12C- und 13C-Atomen in Relation zu setzen, um zu einer Beurteilung zu gelangen, wie lange ein Organismus schon tot ist. Dank dieser Methode war es möglich, Ötzis Todesdatum auf einen Zeitraum von vor etwa 5000 Jahren zu bestimmen. So nützlich die Methode aber ist – sie hat auch ihre natürlichen Grenzen, denn weiter als etwa 45’000 Jahre kann man mit ihr nicht zurückrechnen, weil darüber hinaus die 14C-Atome schlicht nicht mehr nachweisbar sind.
Zum Potenzial des Kohlenstoffs
In Person von Anatol von Lilienfeld von der Uni Basel sowie Mario Ruben von der Uni Strassburg kamen schliesslich die Chemiker zu Wort. Von Lilienfeld griff das Thema der Computerchips nochmals neu auf und sprach von den Bemühungen der Forschung, mit Hilfe dieser Chips optimale Designs für Kohlenstoffverbindungen zu errechnen. Die Möglichkeiten, die sich aus diesen Verbindungen theoretisch ergeben, können laut von Lilienfeld nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Chemiker nannte die Effizienzsteigerung von Motoren, die Optimierung der Geometrie von Flugzeugen oder sogar neue Medikamente als mögliche Anwendungsfelder, sofern es gelingt, die richtigen chemischen Verbindungen zu errechnen und zu entwerfen. Dort befindet sich jedoch auch der Haken, denn Kohlenstoff kann drei verschiedene Verbindungen mit „Nachbarn“ eingehen, woraus sich eine unfassbare Menge verschiedener Kombinationsmöglichkeiten ergibt – genau gesagt sind es 1060 mögliche Kombinationen. „Das ist eine 1 mit 60 Nullen“, verdeutlichte von Lilienfeld und zeigte diese Nullenkette in seiner Powerpointpräsentation. Pro Tag werden zwar 10’000 neue Verbindungen entdeckt und registriert, doch das reicht bei weitem nicht aus, um diese schier unendliche Anzahl möglicher Verbindungen auch nur annähernd abzudecken. Oder anders: Hätte man zum Zeitpunkt des Urknalls mit dieser Arbeit begonnen, so wäre man heute noch nicht einmal bei einem Drittel der Gesamtzahl an Kombinationen angelangt.
Unbegrenzte Möglichkeiten?
Wo von Lilienfeld sein Referat schloss, setzte der Chemiker Mario Ruben neu an, nämlich bei der Umsetzung der zuvor entworfenen chemischen Verbindungen im Labor. Dabei sollen nicht aus Lust und Laune neue Moleküle entworfen werden: „Wir wollen Moleküle in die Welt setzen, die auch etwas bewirken“, so Ruben. Die erste Frage richtet sich also immer nach dem Nutzen neuer Verbindungen, die zweite lautet, wo genau ein neues Molekül etwas bewirken könne. Die Forscher nehmen sich hier die Natur zum Vorbild, in der jedes Molekül immer seinen Platz und seine spezifische Funktion findet, „das nennt man Selbstorganisation“, erklärte Ruben. Als Beispiel nannte er Moleküle, die auf eines jener Kohlenstoff-Nanoröhrchen gesetzt werden, von denen Christian Schönenberger bereits gesprochen hatte, und die dadurch in einer bestimmten Weise modifiziert werden können. Dabei wird versucht, die Selbstorganisation der Moleküle so vorauszuberechnen, dass die intendierten Effekte eintreten. Was sich mit Kohlenstoff in Zukunft machen liesse, wenn man solche funktionierenden Schaltkreise baut, demonstrierte Ruben anhand eines Youtube-Clips des Mobilgeräteherstellers Nokia, der die Erfindung flexibler Endgeräte (z.B. in Form eines Armbands) in die Wege leiten möchte (Link: http://www.youtube.com/watch?v=Zto6aTZM9t0). Der Clip greift auf, das Ruben zum Schluss seines Vortrags in Worte fasste: „Es deutet sich eine Kohlenstoffrevolution an. Wittgenstein sagte früher einmal sinngemäss: ‚Worüber man nicht reden kann, muss man schweigen’. Ich würde diesen Satz folgendermassen umformulieren: Worüber man reden oder einen Clip drehen kann, darüber kann man auch forschen.“
Skepsis im Plenum
Bei soviel Enthusiasmus von Seiten der Forschung konnte es nicht erstaunen, dass viele Zuhörerinnen und Zuhörer in der anschliessenden Plenumsdiskussion primär ihr Misstrauen gegenüber diesen neuen (Nano-)technologien äusserten – teils mit Bezug auf Beispiele wie Eternitplatten und Asbestfasern, die einst ebenfalls als grosse Neuentdeckungen gefeiert wurden und deren gesundheitlichen Risiken heute einschlägig bekannt sind. Mario Ruben fand diese Tendenz in der Debatte bemerkenswert, erklärte aber auch, dass dies eine gängige Reaktion auf Äusserungen der Wissenschaft zum Potenzial neuer Materialien sei. Er nannte in dem Zusammenhang zwei typische Urängste: dass etwas unkontrolliert wachsen könnte und sich selbst reproduziert und dass die neuen Stoffe giftig sein könnten. Bei der Selbstreproduktion besteht nur ein theoretisches Risiko (es bräuchte dazu Temperaturen von 900°C), die Vergiftungsgefahr konnte jedoch keiner der Experten endgültig ausräumen. Deshalb unterstrichen sie unisono die Bedeutung begleitender toxikologischer Untersuchungen während des Forschungsprozesses. Schönenberger betonte jedoch, dass manche Gefahrenpotenziale sich erst mit vielen Jahren Verzögerung zeigten, wie dies eben beim Asbest der Fall gewesen war. Eine solche Entwicklung sei auch bei Kohlenstoffverbindungen nicht restlos auszuschliessen. Ruben stimmte dem zu: „Die Forschungslage ist momentan sehr unklar, eine strikte Analogie zum Asbest scheint jedoch nicht zuzutreffen. Es lässt sich aber nicht ausschliessen, dass es andere Wirkungen geben könnte“, so der Chemiker. Er nahm dennoch Partei für die Wissenschaft, indem er betonte, dass jede weitere Entwicklung in der Forschung gestoppt würde, wenn man nicht gewisse Restrisiken in Kauf nähme. „Im Zweifelsfall muss der Gesetzgeber entscheiden, ob diese Materialien eingesetzt werden sollen oder nicht.“
Ein Zuhörer wollte dann aber doch noch einmal auf das grosse Potenzial des Kohlenstoffs aufmerksam machen. Zur Belustigung aller Anwesenden berichtete er von seinen Hobbyexperimenten bei sich zuhause, in deren Verlauf er unter anderem feststellen konnte, dass sich mit den Graphenplättchen Salzwasser in Süsswasser umwandeln lässt, was er als eine „sehr nützliche Applikation“ beschrieb. Schönenberger meinte: „Das ist tatsächlich eine phantastische Anwendung. Es gibt aber noch viele mehr.“ Man darf gespannt sein.
Dieser Artikel wurde von der Universität Basel in Auftrag gegeben und bezahlt.