Pünktlich um 15h am Sonntagnachmittag des 10. November 2013 eröffnete Jörg Becher das zweite Wissenschaftscafé des Herbstsemesters. Ein gewöhnlicher Einstiegssatz, der bereits acht Bezugnahmen auf das Phänomen Zeit enthält, die Präteritumform mit eingerechnet. Die Zeit durchdringt unseren Alltag, wir richten uns nach ihr, manche fühlen sich von ihr geknechtet, andere besitzen sie im Überfluss. Dass es die Zeit gibt, scheint unbestritten. Auch die drei Referenten mochten dies nicht in Abrede stellen. Fragt man aber danach, was denn die Zeit genau ist, werden die Erklärungsversuche länger. Die Zeit ist paradox, sie ist gleichsam erfahrbar und unnahbar. Und gerade deshalb gibt sie der Menschheit seit jeher Rätsel auf.
Vom Chaos zum Kosmos
Wo solch elementare Fragen auftauchen, sind Philosophen und Physiker meist nicht weit. So auch im Café Scientifique, das mit dem Physiker Roland Buser und dem Philosophen Emil Angehrn zwei bereits emeritierte (noch so ein Zeitbegriff) Professoren der Universität Basel eingeladen hatte. Dritter Experte im Bunde war der Chronobiologe Prof. Christian Cajochen.
Den Anfang machte Buser, dessen augenscheinliche Begeisterung für die Materie die Zuhörer rasch in den Bann zu ziehen vermochte – trotz des hochkomplexen Inhalts, den er vermittelte. Er begann mit dem Beginn schlechthin, dem Urknall, bei dem laut Buser die Erschaffung von Raum und Zeit ihren Anfang nahm. Der Urknall markierte den Beginn einer Entwicklung vom Chaos hin zum Kosmos, von einem Zustand, in dem Zeit und Raum in Unordnung waren, hin zu einer vorhersehbaren raumzeitlichen Struktur. Er unterteilte diesen Prozess in fünf aufeinanderfolgende Schritte: Erstens in die Physikalische Zeit, in der Raum-Zeit-Materie überhaupt erst geschaffen wurde; zweitens die Biologische Zeit, die durch einen Wandel von der Kausalität zur Synchronizität bestimmt wurde und in der die Materie an Komplexität zunahm: Sie bewegte sich erstmals frei im Raum, was Buser mit dem Bild einer galoppierenden Giraffe untermalte, um das Abstraktionsniveau ein wenig zu senken; darauf folgte drittens die Psychische Zeit, in der zur Freiheit die Intentionalität hinzutrat – Buser nannte als Beispiel die Kultur; mit der Entdeckung der Relativistischen Zeit erschloss sich dem Menschen viertens die Raum-Zeit-Krümmung durch Materie, der – fünftens – die Evolutionäre Zeit folgte, in der der Prozess vom Chaos zur Ordnung vervollständigt wurde.
Was war vor dem Urknall?
Ein Zuhörer sollte dazu später die berechtigte Frage stellen, ob die Zeit denn nicht auch vor dem Urknall schon existiert habe. Buser antwortete, die Physik habe sich lange Zeit dagegen gesträubt, sich mit diesem Problem zu befassen, weil sie grundsätzlich nur über die Phänomene sprechen wolle, die erfahrbar oder zumindest logisch zurückführbar seien. Gerade die Relativitätstheorie habe aber gezeigt, dass der Urknall als ein Extremzustand zu verstehen sei, als Singularität mit – wie er sich ausdrückte – „ausdehnungsloser oder punktueller Existenz“. Dahinter verbergen sich laut Buser andere, unbekannte Dimensionen mit erfahrungslosen Raum-Zeit-Eigenschaften: „Es gibt dort andere Anordnungen von Nebeneinander oder Nacheinander“, versuchte Buser die Verschiebung von Raum- und Zeiteigenschaften zu verdeutlichen. „Diese Phänomene liegen jenseits unserer Erfahrung, die Natur gibt uns keine Hinweise dazu.“ Der Zustand „hinter“ dem Urknall ist nur noch in Gedanken nachvollziehbar. Eine „regio privata“, wie Buser augenzwinkernd anfügte.
Zeit haben – Zeit sein
Chronobiologe Christian Cajochen sprach anschliessend über Phänomene, die sich ein wenig näher an der direkten alltäglichen Erfahrung der Zuhörerschaft bewegen. „Chronobiologie ist die Wissenschaft der biologischen Rhythmen“, erklärte er ganz zu Beginn, wobei diese „bei allen lebenden Organismen“ und „auf allen Ebenen der Organisation“, also bei Genen, Viren aber auch bei komplexem Verhalten, nachweisbar seien. Cajochen konzentrierte sich in seinem Vortrag jedoch ausschliesslich auf den Menschen und dessen „circadianes Orchester“, eine Art Taktgeber im Gehirn. Dieser umfasse zwar „nur rund 10‘000 Nervenzellen“, sei aber für den gesamten Körper der Schrittmacher, die zentrale Uhr. Der Regler dieser Uhr ist ungefähr auf 24h getaktet. Ist dieser Teil des Gehirns der Dirigent, so bilden die inneren Organe wie das Herz, die Lunge oder die Nieren das Orchester, das perfekt synchronisiert im Takt des Dirigenten spielt. Das circadiane Orchester ist also das, was man im Alltagsjargon als „innere Uhr“ bezeichnet.
Aus dem Alltag wissen wir auch, dass diese innere Uhr aus dem Gleichgewicht geraten kann, etwa bei Jetlag. Besonders die Schlaf-Wach-Rhythmen sind stark von externen Einflüssen geprägt, insbesondere vom Unterschied zwischen hell und dunkel. Es ist das Auge, das diese Unterschiede wahrnimmt, deshalb treten laut Cajochen Desynchronisationen der inneren Uhr häufig bei sehbehinderten oder blinden Menschen auf. Auch die Erfahrung aus dem Alltag, dass es Morgen- und Nachtmenschen gibt, lässt sich mit der inneren Uhr erklären. „Das hängt von der Taktfrequenz der inneren Uhr ab“, erklärte Cajochen. „Bei Morgenmenschen ist die Taktfrequenz hoch, bei Nachtmenschen eher niedrig.“ All diese Erkenntnisse brachten Cajochen dazu, das Verhältnis des Menschen zur Zeit grundlegend zu überdenken: „Ich glaube, wir haben die Zeit nicht. Wir sind Zeit.“
Zeit als philosophisches Rätsel
Ein Satz, der auch vom dritten und letzten Referenten stammen könnte, dem Philosophen Emil Angehrn. Denn die Zeit ist auch in der Philosophie ein zeitloses Thema. Angehrn nahm zwei Aspekte in den Fokus, einerseits den Begriff Zeit an sich, andererseits das menschliche Leben und Erleben der Zeit. Seine Ausführungen zum Begriff Zeit leitete er mit den Worten Augustinus‘ ein, der zur Frage, was Zeit sei, einmal gesagt hatte: „Wenn mich niemand danach fragt, weiss ich es. Will ich es aber erklären, weiss ich es nicht.“ Es handelt sich somit um ein typisch philosophisches Problem. Angehrn zog den Vergleich zum Glücksbegriff.
„Zeit definieren zu wollen, ist sinnlos“, fuhr Angehrn fort. Stattdessen zählte er einige Dimensionen und Fragestellungen auf, die die Philosophie in Bezug auf die Zeit formuliert: Ist Zeit objektiv oder subjektiv? Ist sie absolut oder relativ? Gibt es eine Einheit der Zeit oder gibt es viele Zeiten? Ist sie reversibel oder irreversibel, wiederkehrend oder linear? Ist sie einst entstanden, oder war sie immer schon da? Gibt es somit einen Anfang und ein Ende der Zeit? Dies alles sind schöne Denkaufgaben, „philosophische Rätsel“, wie Angehrn sich ausdrückte, die letztlich ungeklärt bleiben.
Zur Frage nach dem menschlichen Leben und Erleben von Zeit rief Angehrn zwei Aspekte auf. Zum einen den Gegensatz zwischen dem, was sich bewegt und dem, was stabil bleibt. Dieser Gegensatz ruft laut Angehrn Verunsicherung hervor, hat also eine emotionale Komponente. Als Beispiel nannte er die Auseinandersetzung des Menschen mit der eigenen Sterblichkeit, mit der Sorge, was von einem Menschen nach dessen Tod übrig bleibt. „Der Mensch strebt nach einem Jenseits der Zeit, er möchte über die Zeit hinaus existieren“, fasste Angehrn den ersten Aspekt zusammen. Er sprach in diesem Zusammenhang von einem „Leiden an der Zeit“.
Der andere Aspekt betraf die Frage, wie der Mensch das Leben innerhalb der Zeit gestalte. Am Beispiel des Musikhörens verdeutlichte Angehrn, dass der Mensch stets vorausgespannt sei auf das Kommende, sich gleichzeitig aber auch dessen bewusst sei, was bereits geschehen ist. Der Mensch kann sich nicht immer nur der unmittelbaren Gegenwart bewusst sein. Das Hören von Musik wäre zwecklos, wenn man sich immer nur des aktuellen Tons bewusst wäre, ohne sich an vorausgegangene Töne und Melodien des Musikstücks zu erinnern. Die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und der Zukunft gegenüber offen zu sein, sich an die Vergangenheit zu erinnern und gleichzeitig den Umgang mit Gegenwart und Zukunft zu lernen, sei deshalb nicht zuletzt eine wichtige biografische Komponente im Umgang mit der Zeit.
Was also ist Zeit?
Dazu passte die Frage von Moderatorin Katharina Bochsler, ob Zeit lernbar sei. Es war jedoch Christian Cajochen, der antwortete, und zwar mit Bezug auf Föten, die wichtige Funktionen ihrer inneren Uhr nach derjenigen der Mutter einstellten. Alles andere entwickle sich in den ersten sechs Monaten nach der Geburt. Änderungen ergäben sich erst mit Beginn der Pubertät, in der es zu einer chronobiologischen Veränderung nach hinten komme. „Deshalb bleiben Jugendliche gerne länger im Ausgang“, wie Cajochen anschaulich erklärte. „Nach der Pubertät ändert sich das wieder“.
Symptomatisch für die gesamte Diskussion waren die Antworten der Experten in der Abschlussrunde auf Bochslers Frage, was Zeit denn nun sei. Alle drei holten nochmals gross aus – der Physiker argumentierte mit Bezug auf den Urknall; der Philosophe mit der Art, wie Menschen mit der Ausgewähltheit des Lebens umgehen; und der Chronobiologe mit der Erfahrbarkeit von Zeit –, um am Ende doch zum selben Schluss zu gelangen: Dass die Frage nicht zu beantworten sei. Die Zeit bleibt, was sie immer schon war. Ein Rätsel der Wissenschaft. Daran konnte auch die zweistündige Diskussion im Café Scientifique am Sonntagnachmittag, den 10. November 2013, nichts ändern.
Dieser Artikel wurde von der Universität Basel in Auftrag gegeben und bezahlt.