Es ist der Horror aller Eltern: Das Kind lässt den Schleckstängel zu Boden fallen – am besten noch in den Matsch –, hebt ihn auf und steckt ihn sich wieder in den Mund. Während das Kind vermutlich ungerührt bleibt, sind die Eltern alarmiert: Wie viele Keime hat das Kind wohl gerade zu sich genommen?
Das Beispiel stammt von Gaby Burgunder von der Mütterberatungsstelle in Basel. Eine besonnene Person, der bei solchen Vorstellungen nicht gleich die Haare zu Berge stehen – im Gegenteil: „Kinder sollen mit Erde, Dreck oder Holz spielen können“, ermunterte sie die Zuhörerinnen und Zuhörer im Plenarsaal des Pharmazie-Historischen Museums. „Kontakt mit dem ganz normalen Alltagsdreck ist nicht schlimm, er ist sogar wichtig für den Aufbau des Immunsystems.“ Burgunder näherte sich damit bereits der Fragestellung des letzten Wissenschaftscafés dieses Semesters, nämlich: Wie viel Dreck hält uns gesund? Wie können wir den Kontakt mit schädlichen Keimen vermeiden? Und ist ein keimfreies Leben überhaupt möglich und erstrebenswert?
Das Gute am Dreck
Burgunder fokussierte in ihrem Beitrag den für die Kinder so wichtigen Spagat zwischen Dreck und Hygiene. Die diplomierte Pflegefachfrau machte darauf aufmerksam, dass der Rückgang der Kindersterblichkeit in den letzten 100 Jahren zwar einerseits auf die verbesserte Hygiene im Alltag zurückzuführen sei, gleichzeitig aber sei ein funktionierendes Immunsystem von herausragender Bedeutung. „Das Immunsystem von Kleinkindern kann sich nur entwickeln, wenn es Kontakt mit Keimen hat“, führte Burgunder aus. Speziell im Alter zwischen 1 und 4 Jahren sei deshalb die Berührung mit Viren und Keimen wichtig, weil dadurch die Wahrscheinlichkeit von Allergien verringert werde. Natürlich führe dies dazu, dass Kinder in dem Alter häufig erkranken. „Aber der Aufbau des Immunsystems kann später nicht nachgeholt werden, das muss im jungen Alter geschehen“, mahnte Burgunder.
Eines der Ziele ihrer Arbeit bei der Mütterberatungsstelle besteht deshalb darin, den Eltern die Angst vor dem Kranksein ihrer Kinder zu nehmen und sie zu ermuntern, ihre Kinder auch einmal draussen im Dreck spielen zu lassen. „Und natürlich ist Hygiene trotzdem wichtig“, erinnerte Burgunder, „das Händewaschen vor dem Essen sollte weiterhin beachtet werden.“ Aber die Angst vor der Krankheit der Kinder gilt es abzubauen, da sie in deren Entwicklung etwas ganz Normales ist. „Leider geht dieses Bewusstsein heute ein wenig verloren“, konstatierte Burgunder zum Schluss.
Das Schlechte am Dreck
Ein eher angespanntes Verhältnis zum Schmutz hat dagegen der Kantonschemiker Philipp Hübner, der in seinem lebendigen Vortrag von seiner Arbeit als Hygienekontrolleur in Basler Restaurationsbetrieben berichtete. In seiner beruflichen Welt sollten Schmutz und Keime im besten Fall gar keine Rolle spielen. Bei der Kontrolle der rund 2500 Betriebe in Basel fallen laut Hübner vier Elemente in die Bewertung der Gefahren mit ein: Das eine ist die Selbstkontrolle der Betriebe, sprich die Frage, ob die Betriebe Massnahmen ergreifen, ihre Hygienestandards selbst zu überwachen. Das zweite Element ist die Frische der Lebensmittel an sich, das dritte die spezifischen Prozesse und Tätigkeiten im Kochbetrieb (ob beispielsweise Gekochtes von Unreinem wie erdverkrusteten Kartoffeln ferngehalten wird). Schliesslich spielen räumlich-betriebliche Voraussetzungen eine Rolle. Pro Element werden Noten von 1-4 vergeben – je tiefer der Wert, desto besser.
Immerhin 12% der Betriebe wurden letztes Jahr mit der Gefahrenstufe „gross“ eingestuft, bei weniger als 1% war die Gefahr sogar „sehr gross“. Um welche Betriebe es sich dabei handelt, durfte Hübner allerdings nicht verraten, da dies unter das Amtsgeheimnis fällt. Zurzeit werde aber über eine Revision des Lebensmittelgesetzes diskutiert, in dem unter anderem dieser Punkt zur Debatte steht, so Hübner.
Küchenhygiene als Maxime
Die Frage von Moderatorin Katharina Bochsler, ob er überhaupt noch in Basel auswärts essen gehe, beantwortete Hübner mit einem klaren Ja. Schliesslich werden diejenigen Betriebe, die als unhygienisch eingestuft wurden, zumindest vorübergehend geschlossen bis sie die Auflagen erfüllen. Einen Tipp wollte er dem Publikum dennoch mit auf den Weg geben: „Kleine Restaurants mit einer grossen Auswahl auf der Speisekarte sind verdächtig, da sie mit Sicherheit nicht alles frisch zubereiten können“, argwöhnte Hübner.
Gegen Ende seines Beitrags verlor der Kantonschemiker ein paar Worte zur Lebensmittelhygiene im Speziellen. Dabei kam er auf die verschiedenen pathogenen Keime zu sprechen, die für den Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Allseits bekannt sind die Salmonellen, deren Vorkommen aber seit Mitte der 90er-Jahre im Rückgang ist, wie Hübner anhand einer Statistik zeigen konnte. Dafür werden die weniger bekannten, aber umso gefährlicheren Campylobacteriose, die man zum Beispiel in rohem Fleisch findet, seit den 80er-Jahren immer zahlreicher. Mit einem Augenzwinkern äusserte Hübner die Vermutung, dass deren geringer Bekanntheitsgrad an ihrem unaussprechlichen Namen liege. Der Chemiker schloss seinen Vortrag deshalb mit zwei Botschaften ans Publikum: „Küchenhygiene ist wichtig, um pathogene oder multiresistente Keime aus der Nahrung fernzuhalten. Und Campylobacteriose sind gefährlich, auch wenn man es nicht aussprechen kann.“
Eine Kulturgeschichte des Drecks
Der dritte Referent, Prof. Dieter Ebert vom Zoologischen Institut der Uni Basel, beschäftigte sich schliesslich mit dem Begriff des Drecks und dessen historischer Bedeutung für den Menschen. „Dreck ist schwierig zu fassen, da es sich nicht um einen naturwissenschaftlichen Begriff handelt“, begann Ebert. Dennoch waren Schmutz und Abfall für die Menschen ein Thema von dem Moment an, als sie sesshaft wurden. Die Nomaden hatten noch kein Konzept von Dreck, da es für sie kein Thema war. Sie liessen einfach zurück, was sie nicht mehr brauchten. Die sesshaften Menschen hingegen waren gezwungen, sich mit der Abfallproblematik auseinanderzusetzen. Heute findet man in Ausgrabungen Spuren davon, dass jene Menschen rasch ein natürliches Gespür entwickelten, dass es Dreck gibt und wie man ihn am besten beseitigt. Und sie taten gut daran, denn „Organismen, die Dreck abzustossen wissen, waren evolutionär stets im Vorteil“, so der Hinweis des Zoologen.
Spannend ist dagegen, dass Wasser bis ins Mittelalter hinein als Dreck galt, weshalb sich die Menschen nicht wuschen, sondern allenfalls Seife zur Überdeckung des Geruchs verwendeten. Erst in der Zeit des Sonnenkönigs Louis XIV wurde Wasser wieder bewusst für die Körperhygiene eingesetzt. Ende des 19. Jahrhunderts begann man dann, den Zusammenhang zwischen Hygiene und Gesundheit zu verstehen: „Der Siegeszug der Hygiene hat fortan viele Menschenleben gerettet“, erklärte Ebert.
Heute existiert laut Ebert eine neue Sichtweise: die Hygienetheorie. Diese konstatiere einen Zusammenhang zwischen der Wahrscheinlichkeit der Keimübertragung und der Wahrscheinlichkeit späteren Krankseins. Wer also in jungen Jahren oft mit Keimen in Berührung komme, sei später weniger anfällig für Krankheiten – Gaby Burgunder nickte bekräftigend. „Dennoch“, wandte Ebert ein, „wissen wir bis heute nicht, ob dieser Zusammenhang wirklich stimmt. Wir wissen zum Beispiel wenig über die Ursachen des Heuschnupfens.“ Das Hauptproblem besteht laut Ebert darin, dass oftmals erst die Kumulation verschiedener Keime einen bestimmten Effekt auslöse und diese Interdependenzen schwer durchschaubar seien.
Wie viel Dreck brauchen wir also? Ebert meinte dazu: „Wir wissen es nicht genau. Sicher ist aber, dass wir Keime brauchen. Entfernte man bei einem Menschen alle Mikroben, so wäre er wohl lebensunfähig. Natürlich müssen wir beispielsweise den Kontakt mit pathogenen Keimen vermeiden. Aber momentan gehen wir etwas zu weit in Richtung Reduktion der Keime“, so die finale Einschätzung Eberts. Auch in diesem Punkt war er sich also mit Gaby Burgunder einig.
Unvorhersehbare Kreuzreaktionen
Es waren die Kreuzreaktionen, die Interdependenzen der verschiedenen Keime in einem Organismus, die in der offenen Diskussionsrunde am stärksten thematisiert wurden. Denn sie bildeten meist die Antwort auf die Fragen der Zuhörerschaft, zum Beispiel, warum es Krankheiten wie die Hausstauballergie erst seit Kurzem gebe, obwohl die hygienischen Standards immer besser werden. Eberts Antwort lautete, dass trotz grosser Hygiene gewisse Milben Resistenzen bilden, während andere sterben. Die Überlebenden werden dadurch umso bedeutsamer, wodurch neue Krankheiten wie in diesem Falle eben die Hausstauballergie entstehen können. Generell sei aber aufgrund der Kreuzreaktionen zwischen unterschiedlichen Keimen bei solchen Fragen selten ein reines Ursache-Wirkung-Modell anwendbar.
Kantonschemiker Philipp Hübner nahm den Faden auf mit dem Hinweis, dass Hygiene heute teilweise auch übertrieben werde, was neue Nebeneffekte nach sich ziehen könne. Denn: „Das Immunsystem reagiert nicht so schnell auf diese veränderten Bedingungen, das sind Prozesse, die zehntausende oder gar Millionen von Jahren brauchen. Er schloss deshalb mit einer – wie er sich ausdrückte – „ketzerischen Idee“: „Früher hatte man in Basel und in Paris Fluor ins Trinkwasser gemischt, um Karies vorzubeugen. Man hat dann damit wieder aufgehört, weil natürlich auch Pflanzen mit diesem Wasser in Berührung kamen und die brauchen keine Kariesbehandlung. Vielleicht sollten wir heute also Würmer ins Trinkwasser mischen, um eine Gegentendenz zum Hygienewahn einzuleiten.“ Vorsicht Ironie.
Dieser Artikel wurde von der Universität Basel in Auftrag gegeben und bezahlt.