In den Jahren 1932 bis 1972 wurde im amerikanischen Bundesstaat Alabama die vermutlich rassistischste klinische Studie in der Geschichte der USA durchgeführt – im Auftrag der Gesundheitsbehörde Public Health Service. Auswirkungen sind bis heute spürbar.
Green Adair, Coton Adams, James Adams, Louis Adams, Prince Albert … bis Jack Young – insgesamt 600 Namen umfasste die Liste. Nun endlich konnten sie loslegen, die Regierungsärzte Raymond Vonderlehr, Oliver Wenger, Taliaferro Clark und Eugene Dibble mit ihrer Studie zur Erforschung der Syphilis – finanziert vom Public Health Service, einer Behörde des US-Gesundheitsministeriums. Sie gaben ihr den Titel «Tuskegee Study of Untreated Syphilis in the Negro Male». 600 schwarze Männer im Alter ab 25 Jahren hatten sie rekrutiert, hier in der Region um die Stadt Tuskegee, im Süden der USA, wo die Sklaverei zwar 70 Jahre zuvor abgeschafft worden war, wo aber die meisten Schwarzen noch immer wie Leibeigene Baumwollfelder ernteten. Nur wenige Schwarze konnten lesen und schreiben. Wenn sie einen Arzt brauchten, mussten sie das Geld vor der Behandlung auf den Tisch legen, ansonsten rührte ein Arzt meist keinen Finger.
Darum waren sie hellhörig geworden, die Männer in Tuskegee, als die schwarze Krankenschwester Eunice Rivers, die im Auftrag der Regierungsärzte arbeitete, sie mit einem besonderen Angebot lockte: «Letzte Chance für eine kostenlose Spezialbehandlung», verkündete sie. Zudem winkten freie Mahlzeiten und 50 Dollar für die Beerdigung. Also gingen sie hin, zu den Herrn Doktoren, liessen sich eintragen in die Liste und hofften auf gute Medizin. Sie ahnten nicht, dass die Ärzte gar nicht im Sinn hatten, sie zu von ihrer Krankheit zu heilen.
Die Ärzte wollten untersuchen, wie sich Syphilis entwickelt und ob die Erkrankung in Schwarzen anders abläuft als in Weissen. Die Ärzte waren der Meinung, «Nigger» seien minderwertig, geistig gegenüber den Weissen um 1000 Jahre zurückgeblieben. Dafür seien sie sexuell hyperaktiv, mit grossen Geschlechtsteilen und es sei daher nicht verwunderlich, dass sie an allerlei Geschlechtskrankheiten leiden würden. «Eine notorisch syphilisverseuchte Rasse», schrieb einer der Doktoren. Die Region um Tuskegee, das Macon County, schien der ideale Ort zu sein für eine Studie über Syphilis, denn nirgends in Amerika lebten mehr Schwarze mit der Geschlechtskrankheit: Etwa 35 Prozent der Bevölkerung waren vom Erreger befallen.
Zunächst stellten die Ärzte fest, welche der 600 Männer an Syphilis litten. Die von Schwester Rivers verkündete «kostenlose Spezialbehandlung» stellte sich nun als nicht ungefährliche Rückenmarkpunktion heraus, da sich der Syphilis-Erreger in der Rückenmarkflüssigkeit gut nachweisen lässt. Die Patienten litten danach für Tage unter stärksten Kopfschmerzen, einer der Ärzte schrieb von «erinnerungswürdigen Kopfschmerzen», viele konnten sich kaum bewegen.
Nach dieser Untersuchung wurden die Männer auf zwei Gruppen verteilt: Die Gruppe der Syphilis-Kranken umfasste insgesamt 399 Namen, die Kontrollgruppe 201 gesunde Patienten. Den kranken Männern erklärten sie, sie hätten «bad blood», schlechtes Blut – und gaben ihnen Scheinmedikamente.
Das Studienprotokoll sah zunächst vor, die Patienten bis zu ihrem Tod ihrem Schicksal zu überlassen. «So wie ich es sehe, haben wir kein weiteres Interesse an den Patienten, bis sie sterben», schrieb Doktor Wenger an seinen Kollegen Vonderlehr im Juli 1933. Nach dem Ableben wollte man die Patienten aufschneiden, die Kranken wie die Gesunden, um zu untersuchen, was die Krankheit im Körper angerichtet hatte und wie das im Vergleich zu den Gesunden aussah. Auch über diese geplante Autopsie informierten die Ärzte die Studienteilnehmer nicht. «Ansonsten würden sie alle aus Macon County verschwinden», wie es ein Arzt lakonisch festhielt. Entsprechend wurden die versprochenen 50 Dollar für die Beerdigung nur ausbezahlt, wenn die Angehörigen der Autopsie zustimmten.
Vier Jahre nach Beginn der Studie freute sich das Ärzte-Team über die ersten wissenschaftlichen Lorbeeren: Vonderlehr, Clarke und Wenger berichteten im Jahre 1936 im Medizin-Journal Journal of American Medical Association (Jama) über ihre Studienbefunde, die allerdings wenig überraschend ausfielen: Viele der unbehandelten Schwarzen litten an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Störungen des Nervensystems – Syphilis-Symptome, die schon zu der damaligen Zeit bekannt waren. Die Sterblichkeit war im Vergleich zu den Gesunden stark erhöht – auch das keine Überraschung. Im Anhang der Jama-Publikation schrieb Vonderlehr über die schwarzen Patienten: «Der durchschnittliche Negro ist eine angenehme Person und er hat eine Tendenz, fast allem zuzustimmen, bei dem man es sich wünscht, dass er zustimmt.»
Die Doktoren «sorgten gut» für ihre Patienten: Sie verhinderten während des 2. Weltkriegs zum Beispiel, dass ihre Patienten in die Armee eingezogen wurden. Da die Studie durch US-Bundesmittel bezahlt wurde, konnten die Ärzte beim Militär intervenieren. Vonderlehr schrieb an den zuständigen Militärarzt, seine Studienteilnehmer seien unabkömmlich, da «diese Studie von entscheidender Bedeutung für die Wissenschaft ist.»
Die Teilnehmer wurden zwar im Rahmen der militärischen Musterung untersucht, aber die Studienärzte bestanden darauf, dass sie keinerlei medizinische Behandlung gegen Syphilis erhielten. Danach wurden sie aus der Armee entlassen.
Ab den 1940er-Jahren wurde Penicillin als wirksames Mittel gegen Syphilis eingesetzt. Aber von diesem medizinischen Fortschritt erfuhren die Teilnehmer der Studie nichts, im Gegenteil, sie wurden davon abgeschirmt. Ab den 50er-Jahren begann die Rate an Syphilis-Erkrankungen in ganz Amerika zu sinken. Aber allen niedergelassenen Ärzten im Macon County wurde verboten, die Studienteilnehmer gegen Syphilis zu behandeln. Stattdessen steckten die Teilnehmer ihre Frauen an und diese steckten ihre ungeborenen Kinder an, was zu Fehlgeburten führte, oder zu Kindern, die an Hepatitis litten oder an Schwerhörigkeit.
Syphilis verläuft in vier Phasen. Die Krankheit wird hauptsächlich sexuell übertragen, aber nicht nur. Zunächst entsteht ein Geschwür an der Stelle, wo der Erreger Treponema pallidum in den Körper eintritt. Dann wuchert der Erreger in den ganzen Körper aus. In der zweiten Phase treten grippeartige Symptome auf, der Patient leidet unter Glieder- und Kopfschmerzen. Es folgen eitrige Hautausschläge und Haarausfall, Arteriosklerose kann entstehen, die Sehschärfe erlahmt. Bis zur letzten Phase, drei bis fünf Jahre später, wenn die inneren Organe befallen sind, Persönlichkeitsstörungen auftreten, Verfolgungs- und Grössenwahn, Lähmungen und Demenz. Schliesslich stirbt der Patient.
Kritik perlt ab
Dieses Schicksal erlitten viele Teilnehmer der Tuskegee-Studie. Daher wurde die Kritik an der Studie immer lauter, besonders ab Mitte der 60er-Jahre. Mehrere Medizin-Zeitschriften bemängelten, es sei unethisch, die Teilnehmer im Ungewissen zu lassen und eine Behandlung zu verweigern. Einzelne Mediziner erklärten, spätestens ab dem Jahre 1953 hätte man die Männer mit Penicillin behandeln müssen, als dieses in der betroffenen Bevölkerung breit verabreicht wurde. Auch die Deklaration von Helsinki, die Erklärung zu den Ethischen Grundsätzen für die medizinische Forschung am Menschen, wurde ins Feld geführt, als diese im Jahre 1964 in Kraft trat. Sie hält fest: Alle Patienten müssen über den Zweck einer Studie informiert und mit der Teilnahme einverstanden sein.
Bemängelt wurde aber auch der wissenschaftliche Nutzen der Studie. Dieser sei gering – was tatsächlich stimmte, denn das verantwortliche Ärzteteam konnte auch Jahre nach dem Start der Studie keinerlei Unterschiede zwischen dem Verlauf der Syphilis-Erkrankung bei Schwarzen und Weissen erkennen. Und es wurden auch keine neuen Behandlungsmethoden gegen Syphilis entwickelt.
Doch die Kritik perlte am Ärzteteam und auch am Public Health Service ab: Die wissenschaftliche Erkenntnis sei wichtiger als das Wohl einzelner. Die Behörde erklärte, sie würde die Studie bis zum bitteren Ende führen. Bis zum Tod aller Studienteilnehmer.
Die Ungerechtigkeit stank noch einige weitere Jahre zum Himmel. Dann aber kam die Wende. Im Jahre 1972 erschien ein ausführlicher Artikel des Associated Press-Reporters Jean Heller über die Studie. Die Informationen hatte Heller von Peter Buxtun erhalten, einem Mitarbeiter des Public Health Service, der – als er per Zufall von der Studie erfahren hatte – zunächst versucht hatte, die Studie auf internem Weg zu stoppen. Als dies konstant abgewürgt wurde, steckte er die Geschichte einem Journalisten. Ein demokratischer Senator nannte im Artikel die Studie erstmals beim Namen. Das Ganze sei «ein moralischer und ethischer Albtraum». Ein Aufschrei ging nun durch die USA, Protestmärsche wurden organisiert und ein Jahr später wurde die Studie gestoppt.
Anzahl Tote: unbekannt
Von den ursprünglich 600 Patienten lebten zu diesem Zeitpunkt noch 74. Wieviele Männer zwischen 1932 und 1972 an Syphilis gestorben waren, konnte oder wollte niemand sagen. Die Verstorbenen waren ersetzt worden, aber es war unklar, wieviele das waren.
Das Vorgehen von Behörden und Ärzten wurde nun politisch aufgearbeitet. Ein Panel erhielt die Aufgabe, die düstere Vergangenheit auszuleuchten. Involvierte Ärzte und Studienteilnehmer wurden befragt, Studienprotokolle gesichtet und nach einjähriger Arbeit kam das Panel zur Erkenntnis, dass die Studie bereits zu Beginn, im Jahre 1932, ungerechtfertigt war, weil auch mit dem damaligen Moralverständnis keine Experimente mit Menschen hätten gemacht werden dürfen, die nicht darüber informiert wurden. Zusätzlich fiel auch das Urteil über das wissenschaftliche Gewicht der Studie vernichtend aus. Die Aufarbeitung der Datenqualität sei schlecht gewesen, ebenso das Studienprotokoll. Insgesamt bezeichneten die Experten die medizinischen Ergebnisse aus 40 Jahren Forschung als «mager».

Studienteilnehmer erhielten 25 Jahre nach dem Start der Tuskegee-Studie dieses Zertifikat als Dank – plus 25 Dollar.
Nach den politischen wurden nun die juristischen Messer gewetzt. Im Jahre 1973 erfolgte eine Sammelklage. Nach zähen Verhandlungen erhielten die Opfer insgesamt zehn Millionen Dollar Entschädigung. Alle noch lebenden ehemaligen Teilnehmer der Studie erhielten 37 500 Dollar Entschädigung und freie Gesundheitsversorgung bis an ihr Lebensende, Angehörige erhielten 15 000 Dollar. Auch das eher mager im Vergleich zu ähnlich gelagerten Fällen.
Der amerikanische Präsident Bill Clinton entschuldigte sich im Jahre 1997 für die Taten des früheren US-Gesundheitsministeriums. «Den Überlebenden, den Frauen und Familienmitgliedern, den Kindern und Grosskindern sage ich, was sie wissen: Keine Macht auf dieser Welt kann ihnen das Leben zurückgeben, das sie verloren haben, den erlittenen Schmerz, die Jahre des inneren Sturms», erklärte Clinton an einer Pressekonferenz im Weissen Haus. «Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber wir können das Schweigen beenden. Wir können aufhören, unsere Köpfe wegzudrehen. Wir können Euch in die Augen schauen und endlich sagen, im Namen des amerikanischen Volkes: Was die Regierung der Vereinigten Staaten tat, war schändlich und es tut uns leid.» Fünf von damals noch acht lebenden Opfern waren an der Pressekonferenz anwesend.
Doch seine späte Entschuldigung konnte aufgrissene Wunden nicht mehr heilen. Das Misstrauen der afro-amerikanischen Bevölkerung gegenüber Regierung und Ärzten sitzt bis heute tief: 58 Prozent der Schwarzen glauben noch heute, dass Ärzte Medikamente an Kranken ausprobieren, ohne dass die Kranken davon wissen. Bei den Weissen sind es 25 Prozent. Nicht verwunderlich, dass es bis heute schwierig ist, die schwarze Bevölkerung für klinische Studien zu gewinnen. Die Tuskegee-Syphilis-Studie gilt bis heute als Mahnmal für Rassismus und unethisches Verhalten in der medizinischen Forschung.
Der letzte Teilnehmer der Tuskegee-Studie starb im Jahre 2004, die letzte Witwe im Januar 2009. 16 Kinder von Teilnehmern leben noch heute und erhalten freie Gesundheitsversorgung. Die zuständigen Ärzte blieben unbestraft.
Quelle: Centers for Disease Control and Prevention: http://www.cdc.gov/tuskegee/index.html
Recherchen zu Kurzgeschichten mit finanzieller Unterstützung durch den Schweizer Klub für Wissenschaftsjournalismus SKWJ
Fotos: Centers of Disease Control and Prevention CDC
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