Am Morgen des 5. Mai 2004 packte der Kanadier David Reimer seine Schrotflinte, ging damit in die Garage, sägte den Lauf ab, fuhr mit dem Auto auf einen nahe gelegenen Parkplatz, erhob seine Waffe und machte seinen Qualen ein Ende, im Alter von 38 Jahren. Dieser Selbstmord sorgte weltweit für Schlagzeilen, denn David Reimer war einer der bekanntesten Patienten in der Geschichte der Medizin.
Reimer wurde im Jahre 1965 im kanadischen Winnipeg geboren – damals unter dem Namen Bruce Reimer. Im Alter von acht Monaten wurden er und sein Zwillingsbruder Brian ins St. Boniface Hospital gebracht, denn die Mutter hatte beobachtet, dass die beiden Buben während des Pinkelns oft weinten. Eine Beschneidung, schon damals ein routinemässiger Eingriff, sollte Abhilfe schaffen. Doch der so genannte Elektrokauter, der dabei zum Einsatz kam, funktionierte nicht richtig: Bruce Penis wurde verkohlt. Der Anästhesist, welcher der Operation beiwohnte, hörte ein Geräusch, wie wenn ein Steak scharf angebraten wird.
Das Verdikt der Ärzte war niederschmetternd: Bruce Penis würde niemals funktionstüchtig sein. Die jungen Eltern waren verzweifelt. Auf der Suche nach Hilfe pilgerten sie von Arzt zu Arzt, doch alle winkten ab. Penisrekonstruktionen sind selbst heute noch komplizierte Eingriffe.
Bruce, das Mädchen
Etwas Hoffnung schöpften die Eltern, als sie einige Jahre später John Money kennenlernten, ein weithin bekannter Experte für Geschlechtsidentität am Johns Hopkins Spital in Baltimore. Money schlug den Eltern vor, aus Bruce ein Mädchen zu machen. Nur so könne er jemals sexuelle Erfüllung finden.
Money hatte bei seinem Vorschlag aber auch einen Hintergedanken. Money vertrat die Hypothese, dass Kinder bis zum Alter von etwa zwei Jahren sexuell neutral seien und in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität «umerzogen» werden könnten – unabhängig von der genetischen Veranlagung, unabhängig von X- und Y-Chromosomen. Bis zu diesem Alter, so Moneys Überzeugung, könnten die Kinder je nach Erziehung als Junge oder als Mädchen aufwachsen. Vorausgesetzt, Familie und Freunde würden das Kind entsprechend aufziehen.
Diese These war damals nicht nur unter Wissenschaftern verbreitet, sondern auch unter Vertreterinnen der Frauenbewegung: Denn wenn die These stimmte, so würde das beweisen, dass Frauen- und Männerrollen nicht biologisch bestimmt, sondern austauschbar sind. Erziehung und Umwelt sind stärker als Gene, so die Theorie.
Für Money war Bruce Reimer eine einzigartige Gelegenheit, um seine These zu beweisen. Insbesondere weil Bruce mit seinem Zwillingsbruder Brian sozusagen eine «Kontrolle» hatte. Brian würde als normaler Junge aufwachsen, während aus Bruce ein Mädchen wurde. So könnte man die beiden jeweils direkt vergleichen.
Money versicherte den Eltern, dass eine solche Umwandlung gute Chancen auf Erfolg habe und berief sich dabei auf seine Erfahrungen mit Intersex-Kindern, also Kinder, bei denen das Geschlecht bei der Geburt nicht offensichtlich ist. Bruce Reimer war aber kein Intersex-Kind: Er war das allererste Knäbchen, aus dem ein Mädchen werden sollte. Die Eltern gingen auf Moneys Vorschlag ein. Aus Bruce wurde Brenda. Er erhielt eine künstliche Vagina.
Money riet den Eltern, dass Brenda von dieser Umwandlung nie etwas erfahren sollte, denn nur so könne sie ihre eigene Identität finden. Brenda trug fortan Mädchenkleider und sollte mit Puppen spielen.
Brenda fühlte sich wie ein Junge
Doch das Experiment entwickelte sich nicht wunschgemäss: Bereits mit zwei Jahren riss Brenda stets an ihren Kleidern, sie weigerte sich, mit Puppen zu spielen, stürzte sich stattdessen auf die Spielzeugautos und -waffen ihres Bruders. Bereits im Kindergarten wurde sie gehänselt, zum Beispiel, weil sie im Stehen pinkelte, in der Schule hatte sie schlechte Noten, war stets unruhig. Brendas Andersartigkeit war auffallend – auch für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Und sie beklagte sich schon damals bei ihren Eltern, dass sie sich wie ein Junge fühle. Brenda merkte früh, dass mit ihr etwas nicht stimmte, aber sie wusste nicht was.
Moneys Experiment wurde für die Familie zu einer immer grösseren Belastung: die Mutter entwickelte Schuldgefühle, wurde depressiv, versuchte sich das Leben zu nehmen. Der Vater begann zu trinken.
Die Situation verschlechterte sich weiter, als Brenda einige Jahre später in die Pubertät kam: Die männlichen Hormone im angeblich weiblichen Körper begannen verrückt zu spielen. Da konnten auch die verabreichten weiblichen Hormone nicht darüber hinwegtäuschen. Der vernachlässigte Zwillingsbruder Brian, der darunter litt, dass die Eltern stets ein wachsameres Auge auf die Schwester hatten, rebellierte, liess sich bei einem Ladendiebstahl erwischen und begann, Drogen zu konsumieren. Die Familie floh vor ihren Problemen von Winnipeg nach British Columbia. Es half nicht. Die familiären Probleme nahmen sie mit an die Westküste Kanadas. Als der Wohnwagen ausbrannte, zogen sie wieder nach Winnipeg.
Von all diesen Problemen der Familie Reimer war in Moneys wissenschaftlichen Fachpublikationen zu seinem Experiment nichts zu lesen. Seine Berichte aus den 70er-Jahren lobten das Experiment als Erfolg. Insbesondere in seinem Buch «Männlich – weiblich. Die Entstehung der Geschlechtsunterschiede» beschäftigte er sich eingehend mit dem aus seiner Sicht gelungenen Versuch Bruce/Brenda.
Riesige Erleichterung
Im März 1980 konnten die Eltern das Geheimnis vor ihrer Tochter nicht mehr zurückhalten, das schlechte Gewissen war zu stark geworden. Die Tochter drohte, sich umzubringen, falls man sie noch einmal zu Dr. Money zur Untersuchung schicken sollte. Der Vater erzählte Brenda in der Auffahrt des Hauses, dass sie einst Bruce geheissen hatte. Für Brenda war das überraschenderweise eine riesige Erleichterung. Nun schien alles einen Sinn zu ergeben. Umgehend wollte Brenda wieder ein Junge sein. Er gab sich den Namen David.
Mit der Zurückwandlung waren die Probleme aber nicht gelöst. Die Pubertät war weiterhin eine Qual, an Geschlechtsverkehr vorerst nicht zu denken. Die Ärzte hatten ihm zwar operativ einen Penis-Ersatz konstruiert, aber der reichte gerade zum Urinieren. Erst später, nach vielen weiteren Operationen, schlief er zum ersten Mal mit einer Frau.
Im Alter von 25 Jahren heiratete David. Er und seine Frau Jane zogen in ein Haus in Winnipeg. Er arbeitete in den kommenden Jahren in einem Schlachthof und half mit, die drei unehelichen Kinder seiner Frau grosszuziehen. David hatte in diesen Jahren zum ersten Mal so etwas wie ein normales Leben.
Aber vergessen konnte David nicht, und vergeben schon gar nicht. Sein Schicksal holte ihn ein, er verfiel immer wieder in tiefe Depressionen oder bekam Wutanfälle. Der Tod seines Zwillingsbruders Brian war ein einschneidendes Erlebnis. Er verlor seine Stelle im Schlachthof, finanzielle Probleme plagten ihn. Anfang Mai 2004 sagte Jane zu ihrem Mann, dass es gut wäre, wenn sie eine Weile getrennt leben würden. David war nun überzeugt, dass er seine Frau niemals würde glücklich machen können. Drei Tage später holte David seine Schrotflinte hervor und fuhr damit auf einen Parkplatz.
Bis ans Lebensende
John Colapinto, Journalist beim Rolling Stone-Magazin, hat Davids Geschichte im Buch «Der Junge, der als Mädchen aufwuchs» erzählt. Das Buch erschien im Jahre 2000, nachdem die beiden viele Stunden zusammengesessen und David ihm ausführlich seine Geschichte erzählt hatte.
John Colapinto schrieb im Slate-Magazine einen Monat nach Davids Tod: «Ich erhielt einen Anruf von David Reimers Vater, der mir erzählte, dass David tot war. Ich war schockiert, aber ich kann nicht sagen, dass ich überrascht war. Jeder, der mit Davids Geschichte vertraut war, wusste, dass das wahre Rätsel darin bestand, wie er es geschafft hat, 38 Jahre lang am Leben zu bleiben, angesichts der physischen und mentalen Qualen, die er in seiner Kindheit erlitten hatte und die ihn bis an sein Lebensende verfolgten.» Mit Davids Tod starb auch die Theorie von John Money. Seine Mutter erklärte: «Mein Sohn wäre noch am Leben, wenn er nicht das Opfer eines schrecklichen Experiments geworden wäre.»
Recherchen zu Kurzgeschichten mit finanzieller Unterstützung durch den Schweizer Klub für Wissenschaftsjournalismus SKWJ
Quelle:
– BBC Horizon, Dr. Money And The Boy With No Penis, http://www.youtube.com/watch?v=MUTcwqR4Q4Y