Zum Einstieg ein Bonmot des irischen Schriftstellers Jonathan Swift: „Every man desires to live long, but no one would be old.” Swift lebte im 17. und 18. Jahrhundert, zu einer Zeit also, als die Lebenserwartung der Menschen in Mitteleuropa noch wesentlich niedriger war als heutzutage. Dennoch wurde er stolze 78 Jahre alt. Sein Wunsch nach einem langen Leben hat sich also erfüllt.
Swift wurde seinerzeit überdurchschnittlich alt, heute läge er zumindest in der Schweiz deutlich unterhalb der mittleren Lebenserwartung. Diese liegt aktuell bei 82.2 Jahren. Stellt sich die Frage, weshalb Menschen heute immer älter werden. Eine Antwort darauf lieferte die Molekularbiologin Prof. Susan Gasser, die erste Referentin an diesem Nachmittag. Die maximale Lebensdauer des Menschen sei schon immer bei 120-125 Jahren gelegen, meinte Gasser, und zeigte dazu ein Foto von Jeanne Calment, die 1997 im Alter von 122 Jahren gestorben ist und als der älteste Mensch aller Zeiten gilt. Doch verschiedene Faktoren beeinflussten den Unterschied zwischen dem rein chronologischen Alter (Lebensjahre) und dem biologischen Alter. Dazu gehören vor allem die genetische Konstitution, aber auch sozioökonomische Bedingungen, chronische Erkrankungen oder ein lange andauernder Kontakt mit Schadstoffen. Aus diesen Erkenntnissen kristallisierten sich allmählich zwei Alternstheorien heraus: Die Programmtheorie, die von einer programmierten zellulären Uhr ausgeht und besagt, dass die Anzahl der Zellteilungen genetisch festgeschrieben und somit begrenzt ist. Dem entgegen steht die Theorie der Akkumulation zufälliger Ereignisse, die das Altwerden einschränken. Zu solchen zufälligen Ereignissen gehören grundsätzlich Abnutzung und Verschleiss, aber auch oxidative Schädigungen von Makromolekülen durch freie Radikale.
Bekämpfung von Infektionskrankheiten
Gasser liess diese Theorien im Raum stehen und ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Titelfrage, nämlich weshalb die Menschen heute immer älter werden. Anhand einer Statistik konnte sie zeigen, dass die Lebenserwartung in Mitteleuropa ungefähr im Jahre 1850 einen markanten Sprung nach oben gemacht hatte. Gassers Theorie zufolge lag dies daran, dass Infektionskrankheiten wie Windpocken in dieser Zeit erstmals behandelt werden konnten. Die Zahlen sprechen für Gassers Theorie: Starben im 18. Jahrhundert noch rund 600’000 Menschen pro Jahr an Windpocken, sind es heute aufgrund umfassender Impfungen keine mehr. Gassers Fazit lautete demnach, dass die Fähigkeit des Menschen, sich von Infektionen zu erholen oder sie gar ganz zu vermeiden, der wahre Grund für die erhöhte Lebenserwartung sei. Die maximale Anzahl an Zellteilungen beim Menschen sei dann bloss ein sekundärer Faktor.
Die Gretchenfrage der Geriatrie
Als nächster Referent war der Chefarzt der Geriatrie am Unispital Basel, Prof. Reto Kressig, an der Reihe. Ein fröhlicher Mann, dessen professionelle Beschäftigung mit dem Altwerden sich an seinem ungezwungenen Umgang mit dem Thema bemerkbar machte. Kressig war es, der das Zitat Jonathan Swifts an den Anfang seines Vortrags stellte. Er leitete daraus ab, was man als die Gretchenfrage der Geriatrie bezeichnen könnte: Welches Geheimnis verbirgt sich hinter der Gesundheit im hohen Alter? Wie schaffen es Menschen, 90 oder 100 Jahre alt zu werden und noch immer körperlich fit zu sein?
Kressig beschrieb die Geriatrie als einen vergleichsweise jungen Teilbereich der Medizin. Mit der Etablierung dieses Fachbereichs verbunden war die Definition einiger „age-associated dysfunctions“, Krankheiten also, die vor allem mit zunehmendem Alter auftreten. Dazu gehören beispielsweise Arthritis, Diabetes, Osteoporose oder abnehmende Sehstärke. Der Geriatrie gehe es nicht darum, diese Krankheiten zu heilen, wie Kressig verdeutlichte. Dies sei zumindest im Moment gar nicht möglich. Vielmehr sollen Symptome behandelt werden. Als Paradebeispiel nannte Kressig die Demenz, die nicht heilbar, wohl aber behandelbar ist. Der Krankheitsverlauf könne durch geeignete Massnahmen verlangsamt werden.
Schlüsselkategorie „Frailty“
Das chronologische Alter spielt in der Geriatrie eine untergeordnete Rolle, viel wichtiger ist das biologische Alter, also die Frage, wie fit man sich aktuell fühlt. Kressig wies in diesem Zusammenhang auf das Konzept der „Frailty“, der Fragilität, hin. So habe eine körperlich fitte Frau im Alter von 90 Jahren noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von 6.8 Jahren, wohingegen einer gesundheitlich angeschlagenen Person im Schnitt nur noch 1.8 Jahre bleiben. Entsprechend gravierend wirken sich zusätzliche Krankheiten wie Lungenentzündungen auf diese fragilen Personen aus. Im Unterschied zu körperlich und geistig gesunden Personen verläuft die Heilungsphase länger und ist nie richtig abgeschlossen.
Die Geriatrie konzentriert sich demnach auf Konzepte zur Steigerung der Fitness und Gesundheit älterer Menschen. Kressig wies darauf hin, dass Bewegung und (geistige) Aktivität im Alter äusserst wichtig seien. So reduziere Tanzen laut einer Studie das Demenzrisiko um satte 76%. Dazu empfahl Kressig den regelmässigen Konsum von Molke, die sehr gesundheitsfördernd wirke.
Alter als gesellschaftliche Konstruktion
Der dritte Referent im Bunde, der Soziologe Dr. Hector Schmassmann, hob die Thematik anschliessend auf die gesellschaftliche Ebene. Er tat dies mit dem spannenden Hinweis, dass das Alter letztlich eine gesellschaftliche Konstruktion sei: „Das Alter als eigenständige Lebensphase, der eine bestimmte soziale und psychologische Bedeutung zugeschrieben wird, existiert in unserer Gesellschaft erst seit 50 Jahren. Zuvor hatte es nur die Unterteilung in Kinder und Erwachsene gegeben“, so Schmassmann. Im Wesentlichen war die Einführung der AHV für den Wandel verantwortlich, damals sei das Alter als Kategorie überhaupt erst institutionalisiert worden.
Auch der Soziologie scheint das chronologische Alter unzureichend, um „das Alter“ als Kategorie festzuschreiben. Schmassmann wies deshalb auf die Überlegungen Patrice Bourdelais‘ hin, der vorschlägt, sich auf die fernere Lebenserwartung zu konzentrieren: Wer nur noch über eine kurze Lebenserwartung verfüge, sei alt – unabhängig vom chronologischen Alter. Das Alter kann somit im Extremfall schon sehr früh beginnen, wenn zum Beispiel ein Kind unter einer schweren Krankheit leidet. Schmassmanns Botschaft lautete deshalb, von fliessenden Altersgrenzen zu sprechen, denn: „Alter ist nicht in Zahlen festlegbar.“
Zur Bedeutung sozialer Kontakte
Die abschliessende Plenumsdiskussion war thematisch sehr vielfältig. Jemand wies auf die metabolischen Krankheiten hin, die in der Schweiz verstärkt zum Problem würden. Susan Gasser entgegnete jedoch, dass es sich dabei eher um ein soziales Problem handle und weniger um ein medizinisches. Als Beispiel diente ihr das Übergewicht: „Man weiss, was man dagegen tun kann. Metabolische Krankheiten haben viel mit der Lebensweise zu tun. Die grossen Probleme der künftigen Generationen werden eher der Krebs und Demenzkrankheiten sein“, meinte Gasser.
Dennoch sind solche sozialen Probleme nicht von der Hand zu weisen. Kressig liess den Hinweis folgen, dass Einsamkeit im Alter mittlerweile eine Diagnose sei, denn diese könne sich sehr schlecht auf die Gesundheit auswirken. „Gerade der Kontakt mit jüngeren Menschen wäre da wichtig“, betonte Kressig, „ansonsten droht die Gefahr der Passivität, die die Einsamkeit noch verschlimmert. Das ist wie eine Abwärtsspirale.“ Eine betagte Dame aus dem Plenum machte sich daraufhin für die Eigenverantwortlichkeit älterer Menschen stark, was die Pflege sozialer Kontakte betreffe: „Man kann nicht einfach zuhause sitzen und erwarten, dass die Gesellschaft einem hilft“, meinte sie. Dies sollte einen Herrn aus dem Plenum zur Bemerkung hinreissen, dass alt werden nichts für Feiglinge sei.
Diskriminierung der Alten?
Dass sich derlei Fragen überhaupt stellen, habe nach Meinung einer weiteren Hörerin auch mit einer gewissen Diskriminierung der Alten in der Gesellschaft zu tun. Das Argument lautete, dass ältere Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt würden und der Dialog zwischen alt und jung gestört sei. Dazu passte ein weiteres Statement einer Dame aus dem Plenum, die feststellte, dass Altersgruppen zunehmend unter sich blieben, es fehle an intergenerationeller Offenheit. Und diese Entwicklung werde von den Sozialsystemen noch begünstigt. Reto Kressig wollte es allerdings nicht so finster sehen. Er bezeichnete dieses Problem als eine Frage des Marktes, und der Trend sehe zurzeit eher positiv aus. Denn alte Menschen würden aktuell zum Teil in den Arbeitsmarkt reintegriert, weil man vermehrt auf ihre Erfahrung setze. Susan Gasser wollte auch eher die positiven Seiten des Alters betont wissen. Man habe mehr Zeit, das zu tun, wozu man Lust habe. „Alter sollte nie als Nachteil angesehen werden“, verdeutlichte sie. Auf ihrer Powerpoint-Folie hatte sie dazu einen denkwürdigen Merkspruch notiert: „Add life to years, not just years to life.“
Dieser Artikel wurde von der Universität Basel in Auftrag gegeben und bezahlt.