„Ich möchte mit einer bildungspolitischen These beginnen und danach Schritt für Schritt herleiten, woher diese Vorstellung kommt“, begann die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Margrit Stamm ihren Vortrag. „Die These lautet folgendermassen: ‚Kinder spielen heute zu viel und sind deshalb zu wenig auf das Leben vorbereitet’“. Ein Raunen ging durch den Plenarsaal. Offenbar war die grosse Mehrheit der Zuhörer anderer Ansicht als so mancher Bildungspolitiker. Ein erstes Indiz für den hohen Stellenwert, den das Spiel(en) in unserer Gesellschaft einnimmt?
Margrit Stamm – von Moderatorin Katharina Bochsler als „grande dame der frühkindlichen Bildungsforschung“ angekündigt – begann mit ihrer Herleitung bei der PISA-Studie. Diese habe zum allgemeinen Erstaunen gezeigt, dass Schweizer Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich nur mittelmässig abschneiden. Eine Konsequenz daraus seien Vorstellungen gewesen, wie sie in jener These zum Ausdruck kommen: Kinder spielten zu viel, sie sollten früher ans Lernen herangeführt werden. Ein anderer Vorschlag lautete, den Kindergarten komplett für das Spielen zu reservieren, die Schule dafür strikt auf das Lernen auszurichten.
Der Wert des Spiels im Frühkindalter
Heikel ist an der These, dass sie auf einer doppelten Annahme beruht: Einmal, dass Kinder heute in der Schule schlechter abschneiden als es die Kinder früher getan hätten. Zweimal, dass das Spielen die Hauptschuld an diesem Abwärtstrend trägt. Und Stamm wies noch auf eine weitere Problematik hin: Die strikte Trennung von Spielen und Lernen sei sehr fragwürdig. Die Tendenz zeige, dass immer mehr Eltern ihre Kinder früh in Lernprogramme stecken mit dem Idealziel optimaler Bildungschancen. Studien wiesen aber nach – und damit betonte Stamm den Wert des Spielens –, dass die meisten schulisch erfolgreichen Kinder eine intensive Spielphase vor Eintritt in die erste Klasse genossen: „Diese Kinder haben die Motivation und die Lust in die Schule mit hineingetragen“, meinte Stamm, und dies habe sich positiv auf ihre Lernbereitschaft ausgewirkt. Spielen und Lernen strikt zu trennen scheint somit wenig sinnvoll. Die pädagogische Perspektive auf das Spiel sei deshalb folgende: Der Spieltrieb sei genetisch bedingt, das Spielen bereitet Lust und Freude und ermöglicht ein lustvolles Üben im Gegensatz zum systematischen Lernen. „Die Kunst besteht darin, das Spiel in das systematische Lernen zu überführen – ein Lernen, in dem spielerische Elemente noch immer vorhanden sind“, resümierte Stamm.
Die zu Beginn vorgestellte These verwarf die Erziehungswissenschaftlerin dann dennoch nicht vollständig, denn: „Kinder spielen heute zwar nicht zu viel, aber zu banal, zu wenig anspruchsvoll.“ Anspruchsvolle Spiele seien beispielsweise Rollenspiele. Spiele, die aus der Phantasie entstehen. Weniger anspruchsvoll sei hingegen so manches Spielzeug. Das freie Spiel aber erfordere ein hohes Mass an Kreativität und Ideenreichtum, weshalb Stamm zum Schluss kam, dass „anspruchsvolles Spiel höchstes Lernen“ sei.
Historischer Bedeutungswandel des Spiels
Dass das Spielen im Verlauf der Geschichte mehrere Bedeutungsverschiebungen erfahren hat, konnte die Kunsthistorikerin Dr. Margret Ribbert in ihrer Präsentation zeigen. Im 16. Jahrhundert beispielsweise war das Kinderspiel noch weitgehend negativ belegt, es wurde als unnütz und bestimmt nicht als bildend angeschaut. Diese Ansicht änderte sich erst im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung: Plötzlich wurden die Bewegung und das Spiel der Kinder positiv bewertet. Ribbert, die Kuratorin am Historischen Museum in Basel, konnte diesen Wandel an einigen ausgewählten Gemälden und Bildern nachweisen. Unter anderem präsentierte sie Biedermeier-Illustrationen mit dem Titel „Das Spielzimmer“. Ein solches Zimmer sei im 18. Jahrhundert überhaupt erst erfunden worden, Kinder hatten zuvor kein eigenes Zimmer, das einzig ihrem Spiel diente und von den Erwachsenen-Zimmern abgetrennt war, erklärte Ribbert. Die Illustrationen zeigten klassische Spielszenen wie Rollenspiele, Versteckspiele oder Bauklötze. Später versuchte man, Lerneffekte in die Spiele mit einzubauen. Ribbert nannte als Beispiel ein Quartett mit berühmten Personen oder ein Geografiespiel.
Spiellust – Spielsucht
Ein Suchtpotenzial schloss Ribbert bei solchen Spielen kategorisch aus. Allenfalls bestehe bei Knobel- oder Einsiedlerspielen eine gewisse Gefahr. Richtig gefährlich seien eher reine Geld- oder Glücksspiele für Erwachsene: „Die Probleme kamen mit den Karten“, brachte sie es auf den Punkt. Und diese Probleme bestehen schon lange Zeit, wie ein Kartenspielverbot aus den 1370er-Jahren zeigte. In diesem Zusammenhang fiel bereits der Begriff des „Spielers“, der als „des Teufels Kind“ bezeichnet wurde. Es ist denn auch kein Zufall, dass das Kartenspiel in zeitgenössischen Darstellungen oftmals mit dem Trinken und mit leichten Frauen – kurz: mit dem sündigen Leben – in Zusammenhang gebracht wurde. Das Glückspiel war und ist bis heute problembehaftet. Dies ist eine historische Konstante.
Freilich können in den Gemälden und Illustrationen schichtspezifische Unterschiede beim Spielen festgestellt werden. Ein „Spielzimmer“, wie es die Biedermeier-Darstellungen zeigten, konnten sich nur die reichen Eliten leisten. „Arme Kinder spielten draussen“, meinte Ribbert trocken. Generell galt das Spiel mit Spielzeug bis ins 19. Jahrhundert als Privileg, nur etwa 20% der Kinder besassen damals Spielsachen wie Puppen oder Bauklötze. Für die Armen galt, dass sie nicht selten den Lotteriespielen verfielen, da diese mit niedrigen Einsätzen lockten und einen Ausweg aus der Armut verhiessen – was sich natürlich fast immer als fatale Illusion herausstellte.
Neuster Trend: Digitale Spielwelten
Beim Thema Spielsucht horchte der Psychologe Franz Eidenbenz auf, ein bekannter Spielsuchtexperte aus Zürich. Er beschäftigt sich in seiner täglichen Arbeit aber vor allen Dingen mit den neusten Spieletrends, den digitalen Spielwelten. Obwohl ständig mit Spielsucht konfrontiert, sprach er dem Spiel grosse Bedeutung zu: „Spielen ist nützlich und notwendig, und Rollenspiele ermöglichen ein für die geistige Entwicklung wichtiges Probehandeln“, meinte Eidenbenz. Gleichwohl sei der grosse Wandel im Spielverhalten in den letzten 20 Jahren nicht unproblematisch: „Das Spiel hat heute viel mit Technologie zu tun, man kann in parallele Spielwelten abtauchen.“ Und je nachdem, wie intensiv dieser „flow“ erlebt werde und welche Gratifikationen das Spiel biete, könne dies eine Spielsucht zur Folge haben.
Eidenbenz unterteilte die Spielsucht in einer Grafik in die Glücksspielsucht (Gambling) und die Computerspielsucht (Gaming). Anhand des zurzeit meistverkauften Videospiels, der Fussball-Simulation „FIFA“, konnte Eidenbenz einen problematischen neuen Trend aufzeigen: Das „FIFA“-Spiel verfügt jetzt neu über einen Link zu Wettspielen im Internet. Womit eine neuartige und nicht ganz ungefährliche Verbindung zwischen der Glücksspielsucht und der Computerspielsucht geschaffen wurde.
Ambivalentes Spiel mit Identitäten
Dennoch holte Eidenbenz nicht zum Rundumschlag gegen Computerspiele aus. Dazu sind die Phänomene zu ambivalent. Die virtuellen Identitäten, wie sie beispielsweise im reinen Online-Spiel „World of Warcraft“ geschaffen werden können, ermöglichen ein Experimentieren mit Identitäten, ein identitätsrelevantes Probehandeln. Der Einsatz von Avataren und Nicknames habe teils Rollendiffusion, teils Rollendivergenz zur Folge. Es ist oftmals dem User überlassen, wie sehr er seine Computerspielfigur seinem tatsächlichen Erscheinungsbild anpassen möchte. Eidenbenz zeigte zur Veranschaulichung Bilder des Fotografen Robbie Cooper, der reale Menschen neben die von ihnen gestalteten virtuellen Charaktere montierte. Das Ergebnis illustrierte sowohl die komplementären als auch die kompensatorischen Funktionen der Schaffung virtueller Identitäten: Manche User haben sich ein virtuelles Abbild von sich selber geschaffen, andere wiederum ein genaues Gegenteil ihrer selbst. Dieses Experimentieren, so Eidenbenz, sei nicht per se etwas Schlechtes, aber „das Suchtpotenzial wird dann gross, wenn die virtuelle Realität wichtiger wird als die reale Umgebung“. So lässt sich grundsätzlich auch die Spielsucht definieren: „Von Spielsucht spricht man dann, wenn ein solches Verhalten wichtiger wird als alles andere, trotz negativer Konsequenzen.“
„Spielwelten sind trotzdem faszinierend“, schloss Eidenbenz seinen Vortrag. Nur ein kleiner Teil der User würden süchtig. Bei diesen Menschen gehe es darum, Medienkompetenz zu vermitteln und eine selbstverantwortliche Nutzung zu ermöglichen. Von risikobehafteten Gruppen mochte Eidenbenz in der abschliessenden Plenumsdiskussion, bei der die Suchtfrage im Zentrum stand, nicht sprechen. Man gehe eher von Risikofaktoren aus. Zu diesen gehöre vor allem soziale Isolation, in der Familie aber auch im Freundeskreis. Eine der wichtigsten Aufgaben der Spielsuchtexperten bestehe deshalb darin, die Zusammenhänge zwischen der Spielsucht und Problemen im realen Leben herauszufiltern. Letztlich komme es darauf an, wie stark eine Person in der realen Welt verankert sei, getreu dem alten Leitspruch: Je stärker die Menschen, desto schwächer die Medien.
Dieser Artikel wurde von der Universität Basel in Auftrag gegeben und bezahlt.