Volker Dittmann legte Nachdruck in seine Worte: „Bei der Verhaltensprognose von Straftätern können nur Risikoprofile auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsaussagen erstellt werden.“ Der Aussagekraft von psychiatrischen Gutachten im Rahmen eines Gerichtsentscheids seien somit gewisse Grenzen gesetzt, denn ein straffälliges Verhalten könne verschiedene Ursachen haben, es seien nie alle Motive bekannt und nie alle Bedingungen vorhersehbar. „Es ist wissenschaftlich nicht möglich“, betonte der forensische Psychiater, „Verhaltensprognosen für ein ganzes Leben zu erstellen.“
Wo die Vorhersehbarkeit des Verhaltens einer straffälligen Person aufhört, beginnen die Schwierigkeiten eines Richters – womit das Kernproblem des zweiten Café Scientifique dieses Semesters genannt wäre. Peter Albrecht, ehemaliger Strafgerichtspräsident in Basel-Stadt, wies in seiner sachlichen und ausgewogenen Art darauf hin, wie schwierig es für den Richter zuweilen sei, sich zwischen Therapie oder Strafe zu entscheiden. „Entscheidend ist die Frage nach der Schuldfähigkeit einer Person“, so Albrecht, und diese werde auf Grundlage der Prognoseentscheide des psychiatrischen Gutachtens beantwortet. Das Gericht befindet sich demnach in einer „erheblichen Abhängigkeit“ von solchen Gutachten. Denn auch wenn der letzte Entscheid und damit die Verantwortung immer beim Richter liegt, so sei es doch in der Realität nie der Fall, dass ein Richter sich über ein Gutachten hinwegsetze.
Unvoreingenommenheit der Gerichte gefährdet
Die Krux steckt wie so oft in den Grauzonen: Wie entscheidet der Richter, wenn erhebliche Zweifel über die Rückfälligkeit einer Person bestehen? Wenn jemand vor Jahren zwar eine schreckliche Tat beging, seine Prognose nach abgesessener Strafe aber eher günstig ist? Geht er auf Nummer sicher, indem er das Sicherheitsbedürfnis einer Gesellschaft stärker gewichtet und die Person weiter verwahren lässt? Oder lässt er die Person frei mit dem Restrisiko eines Rückfalls? Zu diesen offensichtlichen Schwierigkeiten gesellt sich speziell in den letzten Jahren die Forderung der Öffentlichkeit, möglichst keine Risiken einzugehen. Ursache für die geschärfte Aufmerksamkeit sind einige Fehlurteile, die schwere Verbrechen zur Folge hatten und in den Medien grossflächig thematisiert wurden. Von diesem öffentlichen Druck könnten sich auch die Gerichte nicht ganz frei halten, meinte Albrecht. Er spürt mittlerweile die Tendenz der Richter, Leute als gefährlich einzustufen, um auf der sicheren Seite zu stehen. Dies sei der Punkt, an dem die „Allianz zwischen Psychiatrie und Gerichten problematisch“ würde, die Unabhängigkeit und die Unvoreingenommenheit der Gerichte seien gefährdet.
Reliabilität der Gutachten entscheidend
Diese schwierige Konstellation zwingt einerseits die forensische Psychiatrie dazu, ihre Analysemethoden stetig zu verfeinern. Volker Dittmann erklärte den Zuhörern in einer kurzen Powerpoint-Präsentation, wie ein solches Gutachten erstellt wird. Zuerst wies er darauf hin, dass ein Delikt immer im Kontext mehrerer Faktoren stehe. So gelte es, äussere Faktoren wie die aktuelle Lebenssituation oder das soziale Umfeld eines Straftäters in die Kalkulation mit einzubeziehen. Genauso wichtig seien biographische Elemente wie die schmerzhafte Trennung von einem Partner. Drittens gebe es zweifelsohne Menschen, denen eine kriminelle Identität zugewiesen werden könne. Und schliesslich seien natürlich allfällige psychische Störungen zu berücksichtigen. Grundsätzlich gilt, dass eine Tat nie bloss auf einen dieser Faktoren zurückgeführt werden kann: „Ein bestimmtes Verhalten hat immer viele Ursachen“, so Dittmann. Vielleicht lässt sich so die Statistik erklären, dass die Rückfallrate sinkt, je schwerer die Tat war. Soll heissen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mörder zweimal zuschlägt ist geringer als bei einem Einbrecher. Bei Mord liegt die Rückfallquote nur bei 0-3%. Das macht es laut Dittmann aber umso schwieriger, die wenigen Fälle herauszufiltern, in denen eine Person, die ein schweres Verbrechen beging, rückfallgefährdet ist.
Ein solches Ursachenkonvolut lässt eine Prognose scheinbar zum Eiertanz werden. Um aber die Fehlerquote zu verringern, entwarf Dittmann zusammen mit anderen Fachleuten eine international angesehene, kriterienbasierte Analysemethode, die in der Schweiz einheitlich angewandt wird und eine systematische Fallanalyse nach bestimmten Kriterien vorsieht. Kombiniert mit interdisziplinärer Teamarbeit können Fachleute heute wesentlich verlässlichere Prognosen stellen als noch vor 20 Jahren. Dittmann hat deshalb ein gutes Gefühl, was heutige Gutachten betrifft, „gleichwohl sind wir noch nicht da, wo wir hinwollen“, gab er zu bedenken. Neuere Forschungen gehen in Richtung der Erstellung dynamischer Hirnbilder, deren Ergebnisse dann interpretiert werden sollen. Dittmann hält die Technologie zumindest im Moment aber für wenig aussagekräftig, er zweifelt an deren Genauigkeit. „Möglicherweise kann sie künftig als unterstützende Massnahme eingesetzt werden“, schloss Dittmann.
Sicherheit – vor wem und für wen?
Die Gerichte werden sich dagegen vermehrt mit ethischen Fragestellungen auseinandersetzen müssen. Denn sie befinden sich in einer veritablen Zwickmühle: Sie müssen die Sicherheit der Bevölkerung vor gefährlichen Straftätern garantieren, gleichzeitig dürfen die Rechte der Täter nicht vernachlässigt werden. Mit solchen Fragen beschäftigt sich der dritte Experte im Bunde, der Rechtsphilosoph mit dem zum Thema passenden Namen Kurt Seelmann.
Seelmann konzentrierte sich in seinem Referat auf verschiedene praktische Problemstellungen. Er wies auf die Problematik der Devise „Im Zweifelsfall einsperren“ hin, die in der öffentlichen Debatte zuweilen durchklingt. Dabei handle es sich um eine Extremposition, die blind sei für die Rechte der Straftäter, weil sie ihnen Restrisiken eindeutig auf den Leib schreibe. Mit entschuldigendem Blick auf Volker Dittmann meinte Seelmann: „Das Rückfallrisiko einer Person wird auch ’nur‘ diagnostiziert. Es existiert keine absolute Sicherheit, ein abschliessendes Urteil ist nicht möglich.“ Auch hier zeigt sich das zentrale Dilemma der Risikokalkulationen, die den Status der Kalkulation bislang eben nicht überwinden können. Es resultiert ein Gerechtigkeitsproblem, das zu lösen erst dann möglich sei, wenn die Verhaltensprognosen über jeden Zweifel erhaben sind. Was vermutlich niemals der Fall sein wird. „Deshalb“, so Seelmanns prägnantes Fazit, „stellt sich bei der Verwahrung folgende Frage: Will man das Risiko auf die Bevölkerung verlagern, indem man im Zweifelsfall für den Straftäter entscheidet? Oder lädt man das Risiko auf die Leute in Verwahrung, die dafür unter Umständen ein ganzes Leben eingesperrt bleiben, auch wenn das Rückfallrisiko gegen null tendiert?“ Mit dieser Frage im Hinterkopf wurden die Zuhörer in den Sonntagabend entlassen.
Dieser Artikel wurde von der Universität Basel in Auftrag gegeben und bezahlt.
Die Frage im Titel „krank oder böse?“ scheint an der Veranstaltung nicht beantwortet worden zu sein. Schade. Ich habe auch noch nie jemanden getroffen, der/die mir diese Frage beantworten konnte. Dabei liegt doch genau darin die Krux. Und obwohl dies eine Definitionsfrage ist, wird diese nach jedem aufsehenerregenden schweren Verbrechen wieder gestellt, wie wenn man sie wissenschaftlich beantworten könnte.
Lieber Florian
Die Frage wurde durchaus angesprochen. Der Tenor aller Referenten war aber derselbe und wie ich finde nicht besonders überraschend: „Böse“ ist keine juristische Kategorie und deshalb vor Gericht irrelevant. Wenn nach schweren Verbrechen vom Bösen gesprochen wird, ist das meiner Meinung nach Alltagsjargon, der aber in Fachkreisen keine Rolle spielt.
Ich finde das relativ eindeutig und habe im Artikel deshalb lieber einen anderen Schwerpunkt gesetzt. Aber gut, dann hätte ich den Titel ändern sollen. Habe halt einfach den Titel der Veranstaltung übernommen, was in diesem Fall etwas unglücklich war.