Mit einer provokativen Frage meldete sich das Café Scientifique aus der Sommerpause zurück, nämlich: Wozu brauchen wir Kunst? Anders gefragt: Gehören Malerei, Literatur und Musik zu den Luxusgütern unserer Gesellschaft, oder bilden sie notwendige Bestandteile unseres Zusammenlebens?
Von fundamentaler Bedeutung sind solche Fragen für Philippe Bischof, Leiter der Abteilung Kultur im Präsidialdepartement des Kantons Basel-Stadt, schliesslich stellen sie gewissermassen die conditio sine qua non seines Wirkens dar. Als eine existenzielle Notwendigkeit, ohne die der Mensch nicht überleben könnte, versteht Bischof die Kunst zwar nicht. Als puren Luxus hingegen auch nicht, sondern: „Eine Gesellschaft braucht die Kunst, weil sie die Art und Weise unseres Zusammenlebens mitbestimmt. Kunst ist für die Identität einer Gruppe oder einer Gesellschaft unabdingbar.“ Der Kunst komme die wichtige Aufgabe zu, Fragen zu stellen und neue Perspektiven auf die (Um-)Welt anzubieten, so Bischof weiter. Gute Kunst sollte deshalb interessieren und gleichzeitig provozieren. Oder anders herum: „Kunst ist dann gescheitert, wenn man einfach an ihr vorbeigeht.“ Dennoch betonte Bischof, dass Kunst nicht pauschal nach ihrer Wirkung beurteilt werden sollte, da sie auf verschiedene Betrachter ganz unterschiedlich wirken könne. Wichtig sei vor allem, den Zugang zur Kunst generell zu vereinfachen, die Eintrittsschwelle sollte geringer werden, damit noch mehr Leute erreicht werden können.
Was ist (gute) Kunst?
Über die Frage, was gute Kunst ist und wie sie am besten vermittelt werden kann, zerbricht sich auch Hortensia von Roda bei ihrer täglichen Arbeit den Kopf. Als Kuratorin des Museums Allerheiligen in Schaffhausen und Geschäftsführerin der Sturzenegger-Stiftung kommt ihr die heikle Aufgabe zu, Werke von zumeist noch unbekannten Künstlern aufzukaufen und sie in die bestehende Sammlung einzugliedern. Heikel ist die Aufgabe vor allem deshalb, weil sie ständig mit der Entscheidung konfrontiert wird, was gute Kunst ist, welche Werke also auch in Zukunft erinnert werden. Bei älterer Kunst, so von Roda, sei das einfacher, denn diese habe schon „den Segen, Kunst zu sein“. Ein bemerkenswerter Satz, der die Frage aufwirft, welches Potenzial von Roda in der zeitgenössischen Kunst sucht. Ihr gehe es vor allem um das „zeitkritische Potenzial“ von Kunst – Kunst, die in der Lage sei, Kritik zu üben und dadurch neue Sichtweisen zu eröffnen. Philippe Bischof und Hortensia von Roda suchen offenbar ähnliche Zugänge zur Kunst. Und einig sind sie sich auch darin, dass der Vermittlung von Kunst grosse Bedeutung zukomme. Von Roda meinte gar, dass sie ihre „ganze Leidenschaft ins Vermitteln von Kunst“ setze. Wenn ihr dann jemand sage, dass ihm oder ihr ein bestimmtes Werk ganz neue Perspektiven eröffnet habe, sei das für sie ein sehr besonderer Moment.
Kunst als Wissenschaft
Ralph Ubl vom kunsthistorischen Seminar in Basel hob die Diskussion anschliessend auf eine etwas theoretischere Ebene, indem er den wissenschaftlichen Zugang zur Kunst anriss. Ubl stimmte Bischof in dessen Einschätzung zu, dass Kunst für eine Gesellschaft notwendig sei, weil sie die Art und Weise des Zusammenlebens mitgestalte. Kunst ist gemäss Ubl ein Symbol von Freiheit, da sie „neue Spielräume“ eröffnen könne. Die Frage, wozu wir Kunst brauchen, stelle sich deswegen für Kunstliebhaber gar nicht erst. Für die Kunsthistoriker hingegen sei die Frage durchaus wichtig, da das Forschungsinteresse den Funktionen von Kunst für die Gesellschaft gelte. Diese Funktionen könnten religiöser Natur sein, um Erinnerungen zu konservieren, oder auch, um Macht zu repräsentieren. Aus anthropologischer Sicht ergeben sich weitere Funktionen wie Gemeinschaftsbildung und vor allem Selbstpraxis. Letztere bezeichnete Ubl als die attraktivste Vorstellung in der Moderne, denn dort sei Kunst für die Bildung da, verstanden als Prozess der Persönlichkeitsbildung.
Kunst: Ratio oder Empfindung?
Ubl wies somit auf den wissenschaftlichen Blickwinkel hin, der einen eher rationalen Zugang zur Materie sucht und weniger die sinnliche Erfahrung thematisiert. Diese Polarität der Ansätze war eines der Themen, über die in der Plenumsdiskussion trefflich debattiert wurde. Der rationale Blick der Wissenschaft auf die Kunst stiess beispielsweise bei einer Zuhörerin auf Befremdnis, die sich darüber beklagte, dass viele wissenschaftliche Arbeiten auf das eigentliche Ziel der Kunst, nämlich Empfindungen aller Art beim Betrachter auszulösen, zu wenig eingingen. Sie bezog sich dabei auch auf einen Beitrag einer anderen Hörerin, die eine Anekdote über Dostojewski erzählte, der beim Anblick eines Gemäldes von Hans Holbein vor Ergriffenheit einen epileptischen Anfall erlitten haben soll. Philippe Bischof sprang Ralph Ubl zur Seite und gab zu bedenken, dass die Stärke der Empfindung „nicht unbedingt ein Mass für Kunst“ sei. Ubl ergänzte, dasswissenschaftliche Erkenntnisse über die Kunst durchaus sinnliche Erfahrungen zur Folge haben könnten, nur eben auf einer ganz anderen Ebene.
Auch Hortensia von Roda war der Ansicht, dass sich der rationale und der emotionale Zugang zur Kunst nicht gegenseitig ausschliessen müssen. Als Kuratorin befolge sie klare Kriterien zur Beurteilung, was rational gesehen Kunst sei. Letztlich bestehe die Schwierigkeit aber genau in der Unberechenbarkeit, die aus den unterschiedlichen Empfindungen der Menschen resultiert.
Beinahe automatisch ergab sich daraus die Frage, ob Kunst letztlich das sei, was einflussreiche Personen als Kunst bezeichnen. Die drei Referenten verneinten dies unisono. Ralph Ubl meinte, dass manche Entscheidungsträger zwar einen gewissen Einfluss ausübten, dieser sei jedoch nicht allumfassend und auf alle Fälle „lassen sich Menschen nicht einfach so manipulieren“. Von Roda lenkte ein, dass Experten und Geldgeber natürlich gewisse Künstler unterstützen würden und andere nicht. Aber einen Konsens könnten sie nicht herstellen, „über Kunst wird immer gestritten werden“. Philippe Bischof wies schliesslich darauf hin, dass die Wahrnehmung von Experten und Amateuren im Nachhinein gesehen meist recht ähnlich waren, wenn es darum ging, welcher Künstler erinnert wurde und wer nicht.
Kunst als Event
Ein letzter Diskussionspunkt galt der Frage, inwiefern sich die Kunst den Siegeszug digitaler Kommunikationstechnologien zu Nutzen machen sollte. Philippe Bischof vertrat die Meinung, dass die Digitalisierung nie das Originale komplett ablösen dürfe. Er zerstreute allerdings diese Befürchtung aufgrund der starken Eventorientierung der Gegenwartsgesellschaft: „Das Bedürfnis nach dem Echten, die Lust am verdichteten Erlebnis, kehrt gerade im Zeitalter der Digitalisierung zurück. Die Bedeutung des Originals nimmt zu“, so der Kulturbeauftragte. Auch wenn also künftig sicher nicht jede Kunstausstellung zum hochstilisierten Mega-Anlass mutieren muss, so garantiert ein Event doch ein gemeinsames kulturelles Erleben, und dieses hält Bischof für ausserordentlich wichtig. Ubl stimmte zu: Kunst müsse beides sein – spezialisiert, aber immer auch offen für die Gesamtgesellschaft. Womit von Rodas Ansicht bestätigt wäre, dass gerade die Kunstvermittlung zu einer „zentralen und wichtigen Kompetenz“ gerinnt, die in Zukunft noch grössere Beachtung finden sollte. Denn wir brauchen sie, die Kunst.