Im Jahre 1982 wird der Historiker Kurt Wehrle zum ordentlichen Professor am Historischen Seminar der Universität Basel gewählt. Es ist der Anfang einer zwölfjährigen Leidensgeschichte.
Basel, 27. April 1982. An diesem Dienstagmorgen sind auf den Gängen des Historischen Seminars kämpferische Töne zu hören. Soeben haben die Studentinnen und Studenten erfahren, dass Kurt Wehrle neuer Professor für Neuere Allgemeine Geschichte und Schweizergeschichte wird. Das passt den Studenten überhaupt nicht: Sie sind überzeugt, dass es sich bei dieser Wahl um einen klar politischen Entscheid handelt. Wehrle sei ein Militärkopf, der vielleicht eine Kompanie, aber kein Institut führen könne. Der Mann sei untragbar als Professor, fachlich wie menschlich nicht qualifiziert. Fast niemand am Seminar will Wehrle als Professor. Und bald ist man sich einig: Das ist ein Skandal! Jetzt wird gestreikt!
Was nur hat die Studenten derart in Rage gebracht? Dazu genügt ein kurzer Blick zurück. Zwei Jahre zuvor hatte Wehrles Vorgänger, der Geschichtsprofessor Herbert Lüthy, seinen Stuhl am Historischen Seminar krankheitsbedingt geräumt und in der Folge ging es darum, einen Thronfolger zu finden. Verschiedene Gremien machten sich auf die Suche. Zunächst erstellten die Studenten eine Wunschliste, die drei Namen umfasste: Winfried Schulze von der Universität Bochum, Martin Schaffner von der Universität Basel und Bruno Fritzsche von der Universität Zürich. Das zweite Gremium, die offizielle Berufungskommission der historischen Fakultät, kam auf die gleichen Namen, aber mit anderer Priorität: Schulze, Fritzsche, Schaffner.
Kurt Wehrle, der zu dieser Zeit am Historischen Seminar als Forscher arbeitete, war auf keiner dieser Listen zu finden und der Grund dafür lag vermutlich in mehreren Gutachten über seine bisherige Arbeit. In einem Gutachten wurde die These von Wehrles Doktorarbeit als «fragwürdig» bezeichnet und die Sprache als «ziemlich problematisch»: «Die übertriebene Häufung von Fremdwörtern erschwert das Verständnis des Textes auf überflüssige Weise», war da zu lesen.
In einem anderen Gutachten stand ähnlich Unschmeichelhaftes: «Die Fakultätskommission ist der einstimmigen Meinung, dass Herr Wehrle im Rahmen unseres Lehrprogramms durchaus einen Beitrag leisten kann, dass ihm aber die Verantwortung für zentrale Lehrveranstaltungen nicht übertragen werden sollte.» Damit – so dachten die meisten am Historischen Seminar – sei Wehrle als möglicher Thronfolger nicht im Rennen.
Weitere Listen werden angefertigt
Das Berufungsverfahren für den neuen Geschichtsprofessor ging im August 1981 in eine weitere Runde. Die Universität hatte ihre Favoriten genannt, aber gewählt wurden die Professoren damals nicht von der Universität selbst, sondern von der Regierung des Kantons Basel-Stadt. Das für die Universität zuständige Gremium, die Kuratel, setzte in der Folge eine Sachverständigenkommission ein, die nach einigem Studieren und Aussortieren eine neue Liste präsentierte – und einen neuen Namen ins Spiel brachte. Neben Fritzsche und Schaffner stand neu auch Georg Kreis von der Universität Basel auf der Liste.
Dieser Name stiess vielen Geschichtsstudenten übel auf. Sie wollten Kreis nicht als Professor, denn er verfüge über praktisch keine akademische Lehrerfahrung. Zudem sei er ein bekannter Vertreter der Basler FDP und somit eine politische Wahl. In der Folge protestierten die Studenten in Leserbriefen und organisierten gar einen Streik vor dem Basler Rathaus.
Und dann folgt dieser Dienstagmorgen im April 1982. Während die Studenten noch darüber debattieren, was sie alles anstellen könnten, um Kreis zu verhindern, erhalten sie die Nachricht: die Basler Regierung hat Kurt Wehrle gewählt. Ausgerechnet den 44-jährigen Wehrle, der auf keiner öffentlichen Liste gestanden hatte. Rasch geht das Gerücht um, dass offenbar jemand aus der Regierung oder aus dem Umfeld der Regierung den Namen Wehrles von Hand auf die Berufungsliste geschrieben hat.
Warum die Regierung Wehrle wählte, ist unklar. Eine Mehrheit der Regierungsmitglieder war wohl der Meinung, das Historische Seminar forsche zu weit «links» und ein «bürgerlicher» Professor könne dem abhelfen. Überliefert ist jedenfalls das Zitat des damaligen Regierungsrats und Erziehungsdirektors Arnold Schneider: «Den Wehrle setzen wir denen nun ins Nest.»
Kein Kuckucksei
Die Studenten aber wollen dieses Kuckucksei nicht akzeptieren. Rasch sind sie sich einig: Jetzt wird gestreikt! Bereits der Aufruhr um Georg Kreis hat sie zusammengeschweisst, nun sind sie wild entschlossen zum akademischen Aufstand. Eifrig erarbeiten sie ein Streikkonzept. Eine Gegenveranstaltung wird organisiert, Transparente aufgehängt: «Streikaufruf! Geht nicht in die Seminarräume! Beteiligt Euch an der Gegenveranstaltung!» Flugblätter werden verteilt: «Wehrle statt Kreis, erst recht gibts Mais!» Protesterklärungen werden vorbereitet, Pressekonferenzen organisiert, Streik-Anstecker kreiert und verkauft, um die Streikkosten zu decken. Wenige Tage später findet vor dem Rathaus eine Demonstration mit fast 1000 Teilnehmern statt – die grösste Studentendemonstration seit den 68er-Unruhen.
Die Vertreter des Historischen Seminars – Professoren und Studenten – geben eine offizielle Erklärung ab: Sie seien bestürzt und empört. Die Rede ist von einem unverständlichen und skandalösen Entscheid. «Wir müssen das Resultat dieses Berufungsverfahrens als Misstrauensvotum gegen die wissenschaftliche Kompetenz aller am Gutachten Beteiligten auffassen.»
In der Folge werden verschiedene Basler Politiker aktiv. In insgesamt vier Interpellationen wird die Regierung dazu aufgefordert, das Geschehene im Detail zu erklären. Der zuständige Erziehungsdirektor Arnold Schneider nimmt sich dieser Aufgabe an. Vor dem Grossen Rat erklärt er, die Wahl Wehrles sei ein Kompromiss gewesen, da sich die Vorinstanzen nicht auf einen einzelnen Kandidaten hätten einigen können. Zweifel an Wehrles akademischer Qualität räumt Schneider aus, indem er darauf verweist, dass die Habilitationsschrift, der Grundstein für eine Professur, ja einstimmig von der Universität Basel akzeptiert worden sei. Zudem verweist er auf andere, ähnlich liegende Beispiele. So sei etwa der berühmte Basler Biologe Adolf Portmann gegen den Willen des Erziehungsrates gewählt worden, und dem Philosophen Karl Jaspers habe man ursprünglich auch nur einige Gastvorlesungen zugetraut.
Schneider meint zudem, der Grund für die heftigen Proteste liege weniger in der akademischen Qualität Wehrles, sondern vielmehr in der Tatsache, dass er im Schweizer Militär den hohen Rang eines Oberstleutnant bekleide. Zudem sei Wehrle Kommandant des Basler Füsilierbataillons 54 gewesen. Solch bürgerlich denkende Wissenschafter seien offenbar nicht genehm.
Schneiders Auftritt giesst nochmals Öl ins Feuer. Trotzdem realisieren die Studenten wie auch die Professoren am Historischen Seminar langsam, dass die Situation ist, wie sie ist – Wehrle ist gewählt und auch ein Streik ändert daran nichts. Der Sturm legt sich in den folgenden Wochen etwas, aber die Wogen glätten sich bis zu Wehrles frühzeitigem Tod nicht mehr.
Die Neue Zürcher Zeitung schreibt über die Wahl Wehrles, dass es an sich begrüssenswert wäre, wenn die Absicht der Regierung darin bestanden hätte, zur gegenwärtig am Seminar stark vertretenen sozial- und wirtschaftshistorischen Richtung eine Alternative zu suchen. «Ob man diese mit der Wahl einer derart umstrittenen Persönlichkeit gefunden hat, ist fraglich. Das Übergehen der Sachverständigenkommission könnte zu einer unguten Polarisierung am Historischen Seminar führen.» Mit dieser Einschätzung sollte das Zürcher Blatt leider Recht behalten.
Die Stimmung vergiftet sich zunehmends
Wehrle zeigt sich vom ganzen Aufstand um seine Wahl unbeeindruckt – zumindest äusserlich. Er übernimmt in der Folge seine neue Aufgabe und irgendwann sehen auch seine professoralen Kollegen ein, dass es wohl das Beste wäre, sich mit dem Neuen zu arrangieren. Das allerdings ist keine leichte Aufgabe. Wiederholt hält Wehrle Vereinbarungen nicht ein, selbst schriftlich festgehaltene Vereinbarungen sind oft Wochen später nur noch reif fürs Altpapier. Die Stimmung im Historischen Seminar vergiftet sich zusehends, man grüsst sich nicht mehr auf den Gängen.
Sechs Jahre geht das so, bis Wehrle – zu diesem Zeitpunkt turnusgemäss Vorsteher des Seminars – einen unverzeihlichen Fehler begeht. Es ist wohl als Scherz gedacht, aber es bricht ihm das Genick. In der Studentenzeitung Gezetera äussert sich Wehrle zu akuellen Perspektiven der Geschichtsforschung – ein Interview, das er schriftlich gibt. Auf die Frage, ob er gewillt sei, Forschung und Lehre in afrikanischer und indischer Geschichte weiter auszubauen, lautet Wehrles Antwort: «Fraglos, und unser neues Domizil ist der Zolli.» Die Basler nennen ihren Zoologischen Garten liebevoll «Zolli».
Der Aufschrei am Historischen Seminar ist immens. Die Studenten fordern eine sofortige Suspendierung Wehrles, die Universität Basel ordnet eine Untersuchung an. Wehrle wird nahegelegt, sich frühpensionieren zu lassen, aber mit seinen knapp 50 Jahren ist das für ihn kein Thema. In der Folge wird er als Vorsteher des Historischen Seminars abgesetzt.
Allen ist nun klar – Vertretern von Regierung wie Universität – dass es so nicht weitergehen kann. Es droht die Gefahr, dass das Historische Seminar nachhaltig Schaden erleidet. Daher wird die Idee geboren, Wehrle aus dem Seminar auszulagern: Wehrle soll ein eigenes Institut erhalten. Damit ist zwar niemand wirklich glücklich, aber es ist letztlich der einzige Ausweg aus der verfahrenen Lage. Und so wird Wehrle mitsamt seiner Mannschaft im Jahre 1990 aus dem Seminar ausgegliedert. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Das neue Institut erhält den Namen «Institut für spezielle Aspekte der europäischen Geschichte», aber die meisten nennen es einfach «Wehrle-Institut». Es existiert nur vier Jahre. Wehrle stirbt Ende Mai 1994 nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 56 Jahren. Sein Institut wird kurze Zeit später wieder aufgelöst.
Besondere Belastung für Toleranzforscher
Wehrle ist nicht der einzige Beteiligte an der Affäre, der relativ früh verstirbt. Unter anderen stirbt zum Beispiel zwei Jahre später auch Professor Hans Rudolf Guggisberg ziemlich unerwartet im Alter von 65 Jahren. Guggisberg war schon im Jahre 1981 Teil der Berufungskommission gewesen, die Wehrle nicht auf die Liste gesetzt hatte. Für ihn muss die Zusammenarbeit mit Wehrle eine besondere Bürde gewesen sein, denn eines der Spezialgebiete Guggisbergs war die Toleranz-Forschung. Guggisberg betonte stets, dass er Toleranz auch leben wollte, gegenüber seinen Studentinnen und Studenten sowie gegenüber Kolleginnen und Kollegen.
Noch heute bewegt das Thema Kurt Wehrle die Gemüter in Basel. Die Basler Zeitung schrieb im Jahre 2006 – zwölf Jahre nach seinem Tod: «Die Affäre ist historisch noch nicht aufgearbeitet; dafür liegt sie noch zu wenig lange zurück.»
P.S. Georg Kreis übrigens, den viele Studenten im Jahre 1982 auf keinen Fall wählen wollten, wurde vier Jahre später ohne grössere Widerstände Professor an der Universität Basel.
Quellen:
– Unser Kampf für Geschichte. Hrsg v. der Fachgruppe Geschichte der Universität Basel, 1982
– Staatsarchiv Basel, http://www.staatsarchiv.bs.ch/query/detail.aspx?ID=353403
– Archiv Basler Zeitung
Recherchen zu Kurzgeschichten mit finanzieller Unterstützung durch den Schweizer Klub für Wissenschaftsjournalismus SKWJ
Hast du keine Schnitzelbängg unter deinen Quellen?
Da hat es sicher viele Schnitzelbängg dazu gegeben. Aber in diese Richtung habe ich nicht recherchiert… :o)
Übrigens sehr passend zur Geschichte um Kurt Wehrle die Titelgeschichte der gestrigen Sonntagszeitung (23.9.2012) zum Fall Mörgeli. Da wird Christoph Blocher mit den Worten zitiert: „Früher waren die Hochschulen bürgerlich. Die geisteswissenschaftlichen Fakultäten sind heute links unterwandert.“
Heute? Ein offenbar seit 30 Jahren bestehendes Problem …
http://www.sonntagszeitung.ch/nachrichten/artikel-detailseiten/?newsid=230311
ja ja, das Hysterische Institut Basel (natürlich Basel)