Gentechnik soll gemäss Forschung risikolos sein, hingegen birgt Journalismus etliche Informationsgefahren. Diesen Befund ergibt ein «eigenartiges Erlebnis», das Marcel Hänggi dem «Mediensplitter» steckte. Selbst der hartnäckig recherchierende Wissenschaftsjournalist und Buchautor musste sich die Augen reiben. Als Hänggi letzte Woche von der lange vorher angekündigten NFP-59-Medienkonferenz über Risiken und Potenzial der grünen Gentechnik nach Hause kam, war auf seinem Anrufbeantworter die Nachricht einer ihm unbekannten Tagi-Online-Journalistin. Sie habe gesehen, dass er auch schon über Gentechnik geschrieben hätte und ob er ihr einen Forscher nennen könne, den sie zum Thema befragen könnte.
Die bei Tagesanzeiger.ch/Newsnet (notabene ohne z am Schluss) tätige Redaktorin stellte nachher dem weitherum bekannten ETH-Professor Wilhelm Gruissem ein paar unbedarfte Fragen und lud das Kurzinterview aufs Netz. Daraufhin schrieb ein Online-Leser, ob man denn nicht wisse, dass Gruissem als Berater für die Agrokonzerne Syngenta und Monsanto arbeitete, worauf die Newsnetz-Journalistin (Name unwichtig, Phänomen systembedingt) wiederum Hänggi um diesbezüglich detailliertere Auskünfte gebeten hat.
Schelte für die Online-Kollegin …
Offensichtlich bezog der besagte Leser seine Information von Wikipedia, denn die Formulierung im Kommentar war wortwörtlich dieselbe wie im Weblexikon unter dem Stichwort «Gruissem». Dort wird auch auf einen Tages-Anzeiger-Bund-Artikel zum NFP 59 verwiesen. Marcel Hänggi soll danach mit der Kollegin geschimpft haben, wie wenig sie denn eigentlich recherchiere, wenn sie nicht einmal wisse, was die Tageszeitung im eigenen Hause schon zum Thema geschrieben habe. Und überhaupt, weshalb sie nicht einen Blick auf die NFP-59-Medienunterlagen geworfen oder mit ihren Kollegen bei Tages-Anzeiger und SonntagsZeitung gesprochen habe, den Wissens-Redaktionsleitern und Gentech-Spezialisten Matthias Meili und Niklaus Walter. Meili war ja eigens an die Medienkonferenz nach Bern gereist.
… gilt eigentlich dem Tamedia-Konzern
Das sei alles nicht möglich, gestand die Journalistin. Zum Print habe sie keinen Kontakt, zum Recherchieren keine Zeit und die Medienunterlagen nicht erhalten. Die ehrliche Antwort liess sogar beim ausgekochten Rechercheur Hänggi Mitleid aufkommen, doch verlor Marcel auch jegliche Illusionen über den sogenannten Qualitätsjournalismus auf der viel besuchten Web-Plattform von Tamedia. Im Hause mit dem Gütesiegel «Tages-Anzeiger» scheinen journalistische Abstürze zumindest im Online-Bereich ohne Netz abzulaufen. Die über 500‘000 Nutzer täglich auf dem TA-Newsnetz bekommen davon jedoch kaum etwas bewusst mit. An den Pranger gehört indes nicht die Journalistin, sondern Tamedia, die schlechte Arbeitsbedingungen bietet. Angesichts des jüngst beklagten Gewinnrückgangs beim «führenden Medienunternehmen der Schweiz» wird sich die Qualität hier wohl nicht verbessern. Das Risiko, minderen Journalismus vorgesetzt zu bekommen, ist offenbar eindeutig grösser als die mögliche Gefährdung durch Genfood.
Wen wundert’s? Die aktuelle Aktion Bund-Leser verdeutlicht die Misere: Die SonntagsZeitung gibt’s gratis bis Ende Jahr und für 20 Franken noch das 2013 gratis dazu!? Da komme ich mir als Journalist irgendwie verarscht vor. Ich kenne zwar die Sorgen der Verleger nicht aus eigener Erfahrung. Wenn aber die Zeitung immer billiger ist, kann es irgendwie nicht sein, dass der Journlismus immer besser wird. Wäre es nicht besser zu sagen: „Wir sind zwar teurer, aber dafür umso besser“?
http://www.journal21.ch/max-winiger-1
Was soll, das Beat! Das Interview ist in Ordnung, Gruissem hatte seine Online-Plattform, und es hat 124 Kommentare dazu gegeben. Wozu braucht es da «Schelte für die Online-Kollegin», und was hat die Journalistin zu «gestehen»? Sei doch zufrieden mit dem Impact, den die Medienkonferenz hatte! Super PR für die ETH, was willst du eigentlich mehr.
So schlecht Tagi Newsnet auch ist, die Kommentare der Leser korrigieren die gröbsten Schnitzen und weisen den Schreiber mehr als ihm lieb ist in die Schranken.
@Irène: Die Anzahl der Kommentare zu einem Bericht sind für mich kein eigentliches Qualitätskriterium, auch geht es mir (persönlich) keineswegs um gute PR für die ETH. Was mich erschreckt, sind die schlechten Arbeitsbedingungen bei einem „führenden Medienunternehmen der Schweiz“, das sich mit Qualität brüstet, aber seine Leserschaft schlichtweg für dumm verkauft. Ein solches Interview mit Gentech-Hardliner Gruissem, der seine Ideen zu diesem komplexen Thema ohne kritische Fragen verbreiten kann, ist doch symptomatisch für den undifferenzierten (und teilweise verzerrenden, ja falschen) Newsnetz-Journalismus (es gibt immer Ausnahmen!).
@Adrian: Die Kommentare der Leserschaft mögen zwar eine gewisse Korrektur bewirken, sie sind aber häufig ideologisch und holzschnittartig, beim Gentech-Interview aber zwischendurch erstaunlich klug. Vielleicht liegt da die Hoffnung, dass informierte User vermehrt die Medienschaffenden auf ihre (Recherche-)Defizite aufmerksam machen können.
@ Irène: Ich war ja nicht erschüttert wegen der Qualität des publizierten Interviews, sondern weil offenbar ein Medium mit gutem Ruf Leute unter Bedingungen arbeiten lässt, unter denen man keinen Journalismus machen kann. Es sei denn – notbehelfsweise -, indem man das Wissen irgendwelcher freier Journalisten anzapft – gratis. Und das schädigt ja dann auch dein und mein Geschäftsmodell: Wir eignen uns als Fachjournalisten Wissen an, um es Redaktionen verkaufen zu können, wenn die selber nicht darüber verfügen oder keine Zeit zum Recherchieren haben. Aber nicht um es zu verschenken! Von DRS4 habe ich auch schon recht unbedarfte Anragen erhalten, weil ein/e Mitarbeiter/in keine Zeit zum Recherchieren hatte – aber die zahlen Informantenhonorar!
Du willst auf den Männerclub schiessen, aber zielst auf die Frau – DAS stört mich, lieber Beat.
@ Marcel: Niemand zwingt dich, deiner Konkurrenz Auskunft zu geben…
@ Florian: Warum denn Misere? Der Kampf am Sonntag wird mit immer neuen Regionaltiteln tatsächlich härter und die Bund-Aktion ist eine hoffentlich wirksame Marketingmassnahme, unsere Reichweite zu vergrössern. Mit der Qualität der Redaktion hat dies rein gar nichts zu tun. Verarscht musst Du Dir auch nicht vorkommen. Denn wie Du sicher weisst, haben wir immer noch eine funktionierende (und wie ich denke kompetente) Wissenschaftsredaktion – und das wird sich auch mit dem Bund-Engagement nicht ändern.
@Nik: Dass es eine wirtschaftliche Misere im Print- und Onlinejournalismus gibt, wirst du ja nicht bestreiten, oder? Meine bisherigen Honorare waren jedenfalls nicht berauschend. Dass die Sonntagszeitung Marketing machen soll, bestreite ich nicht. Ich frage mich nur, ob billig/gratis unten rein, eine gute Strategie darstellt, für Qualitätsjournalismus zu werben.
@Florian: Nur zur Erinnerung: Als die „NZZ am Sonntag“ vor über zehn Jahren lanciert wurde, erhielten NZZ-Abonnenten die Zeitung über ein halbes Jahr gratis, danach flatterte unkommentiert eine Rechnung für beide Titel ins Haus. Als der „Sonntag“ lanciert wurde, passierte dasselbe mit Abonnenten der Mittellandzeitung. Insofern erscheint mir die Aktion SoZ/Bund ziemlich gnädig.
Und: So funktioniert halt Marketing (nicht meine Kernkompetenz übrigens). Auf lange Sicht muss man aber die Leser schon dazu bringen, dass sie den „normalen“ Preis zahlen. Das wird unser Verlag hoffentlich schaffen.