Die Sommerferien gehen zu Ende, die Redaktionen sind wieder voll besetzt und die „Sauren Gurken“ bereits ordnungsgemäss entsorgt. Im Komposthaufen der Wissenschaftsseiten ragen davon noch einige besonders eindrückliche Exemplare heraus, die sich der medialen Verrottung widersetzen. Es folgt eine kleine, nicht repräsentative Auswahl, ungerecht wie im wahren Leben.
Kurz vor der Sommerflaute provozierte das Higgs-Boson einen tosenden Hype in sämtlichen Medien. Gutgläubig wurde Anfang Juli die Verlautbarung des Cern weltweit verbreitet, das Schluckauf-Teilchen sei jetzt quasi nachgewiesen worden. Ungeachtet des wissenschaftlichen Restrisikos einer blamablen Fehlprognose gaben sich Forscher und Journalisten euphorisch, läuteten neue Epochen ein und begeisterten sich für die teuren Apparaturen im Genfer Untergrund. Die Riesenanlagen sollen angeblich Antworten auf unsere grossen Fragen geben. Einzig die SonntagsZeitung machte ein originelles Gedankenexperiment und veranschaulichte, was wäre, wenn ein anderes als das vorausgesagte Teilchen entdeckt würde (08.08.). Doch überall waren keinerlei kritische Einwände zu Big Science auszumachen, auch keine Zweifel am Kosten-Nutzen-Verhältnis solch gigantischer Investitionen – weder in TA, NZZ noch verständlicherweise auf ETH Life, weder in der Sonntagspresse noch in Le Temps und weiteren Blättern, auch nicht in den elektronischen Medien. Oder hab ich da was übersehen, überhört? Fürs Cern mit seinen Fundraising-Problemen schoss die gut geölte PR-Maschinerie ein tolles mediales Feuerwerk in den teilchenphysikalischen Himmel. Es lebe die grundlegend wertfreie Wissenschaft, hicks!
Fehlendes Image bei Akupunktur und Neandertaler
Je länger sich der Juli hinzog, desto grösser wurden die Fotos auf den TA-Wissensseiten. Die Bildserie über Tierwanderungen (ab 24.07.) bedeckte mehr als eine halbe Zeitungsseite – eine optimal getarnte Sparmassnahme des in der Regel nicht arbeitsscheuen TA-Wissensteams. Doch das Redaktionsbudget an der Werdstrasse wird augenfällig wohl immer schmäler. Effektiv Sommerpause machte die Wissens-Crew von 20 Minuten, die Finanzquelle der hier zahlenden Stiftungen war vermutlich in der Hitze temporär versiegt. Ansonsten plätscherten die Wissenschaftsseiten dahin, viele billig eingekaufte oder ewig wartende Beiträge kamen an die Reihe, auch das Bashing der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) im TA wurde fortgesetzt (14.07.). Medizinredaktor Felix Straumann wagte zwar die Probebehandlung mit Akupunktur, brach sie dann aber infolge fehlender Zusatzversicherung gleich wieder ab und wechselte für sein Ekzem auf Kortisonsalbe. Hans Boller, Präsident Chinamed und ehemaliger TA-Redaktor, bemängelte im Leserbrief (17.07.) die mit Vorurteilen behaftete Berichterstattung. Recht hat er, denn vor allem hier gilt: einmal ist keinmal. Immerhin entschädigte uns TCM-Ex-Patient Straumann zehn Tage später mit einer flott und locker geschriebenen Eloge auf den Neandertaler, dem wir bis heute unrecht täten (27.07.). Nun, die haarigen Flachköpfe kannten vor 100‘000 Jahren ja auch keine Akupunktur. Nein, diese Dumpfbacken in Tierhäuten und nun erwiesenermassen ohne Keule starben aus, weil sie möglicherweise unter einem schlechten Image litten. O weh!
Klimavergleiche zwischen Papayas und Rübenkohl
Zugeschlagen mit der Keule haben im Juli hingegen erneut die notorischen Gegner des menschengemachten Klimawandels. So behauptete Markus Schär in der Weltwoche steif und fest, eine neue Studie stelle die Grundlagen der bisherigen Klimaforschung und den Weltklimarat IPCC per se in Frage (19.07., siehe Weltwoche Klima Schär 190712). Eine Woche später doppelte Michael Breu in der BaZ nach und schloss stringent, weil die Römer keine Gletscher gekannt hätten, würde das die gängige Meinung zur Klimaerwärmung widerlegen (26.07., siehe BaZ Klima Breu 260712). Henusode!, sagt sich der Berner. Die beiden Profijournalisten verglichen bei ihren Folgerungen jedoch nicht nur Birnen mit Äpfeln, sondern vielmehr Papayas mit Rübenkohl. Oder im Klartext: Zum einen entspricht der Abkühltrend im nördlichen Finnland, worauf sich die Studie bezieht, überhaupt nicht dem Temperaturverlauf in Skandinavien und schon gar nicht der globalen Entwicklung. Der direkte Vergleich der in BaZ und Weltwoche gezeigten Grafiken ist somit eindeutig unlauter. Und zweitens hat die Existenz einer Warmperiode in der fernen Vergangenheit rein nix zu tun mit der menschengemachten Klimaveränderung der Neuzeit. Aber eben, für diese „Totengräber der redlichen Wissenschaft“ (Eigenzitat) sind Fakten lästig und überdies ein Fremdwort. Damit hauen sie den „mündigen Leser“ (Zitat Breu) schlichtweg in die Pfanne; er (oder sie) hat keine Chance auf eine fundierte Information. Jammerschade!
Etwas gar spät hat der TA reagiert und ein klärendes Interview mit dem an der besagten Studie beteiligten Klimaforscher Ulf Büntgen von der WSL publiziert (17.08., siehe TA Interview Büntgen 170812). Immerhin eine Entgegnung auf die unsäglichen Elaborate von Schär und Breu. Wer sonst hat noch gekontert? Bitte melden! Der Wissenschaftsjournalismus in der Schweiz ist zwar generell solide und seriös, doch auch etwas trocken und nicht gerade locker – und vor allem kaum debattierfreudig. Häufig werden Konflikte, die den Hochschulbetrieb und die Wissenschaft betreffen, heruntergespielt oder gar unter den Tisch gewischt und totgeschwiegen. Wenn es hitzig und laut wird, setzen unsere Medienleute in den Wissenschaftsredaktionen die kühlende Binde aufs Auge und lärmdämpfende Stöpsel ins Ohr – mit stets löblichen Ausnahmen, versteht sich!
ETH-Frauenquote für uns Marsmenschen
Heiss hingegen wird es kaum auf dem Mars, der in der Saure-Gurken-Zeit ebenfalls zu Ehren kam, zumindest die gelungene Landung des Nasa-Rovers „Curiosity“. Abgesehen von Ex-Astronaut und Nationalheld Claude Nicollier (Ex-BR Ogi: „Freude herrscht“) kann sich wohl niemand vorstellen, seine verbleibende Lebenszeit auf dem roten Planeten zu verbringen (Tagesanzeiger.ch/Newsnet, 08.08.). Dort oben, das weiss jeder Erstklässler, schlottert man doch vor Kälte und schlägt die Zeit tot. Gleichwohl seien wir alle Marsmenschen, kommentierte Hanna Wick in der NZZ (07.08.). Ihre kluge Analyse der Marsmission mit unsern damit verbundenen Träumen und Projektionen ist echt lesenswert und kommt in der „alten Tante“ an der Falkenstrasse erstaunlich cool daher.
Keck war auch das Interview im TA mit der Physikprofessorin Ursula Keller, die an der altväterischen ETH Zürich eine durchaus berechtigte Frauenquote für Professuren verlangt (18.08.). Die Wissenschaftlerin ist mit ihrem forschen Habitus für den ETH-Präsidenten und viele andere Professoren der alten Garde ein „rotes Tuch“. Man darf gespannt sein, was in den hehren Hallen an der Rämistrasse weiter mit diesem heissen Eisen geschieht. Zumal auch der neue ETH-Rektor Lino Guzzella an Gymnasien mehr Leistungsdrill in Mathematik und Physik fordert (NZZaS, 29.07.). Wo bleiben denn da die sozialen und kommunikativen Kompetenzen für all diese ETH-Nerds? Auf der Strecke? Jedenfalls haben Ursula Keller und TA-Interviewer Matthias Meili mit ihrer kleinen Provokation die „Sauren Gurken“ dieses Sommers endgültig in den Kompost verbannt. Wir freuen uns jetzt wieder auf frisches, knackiges und auch pikantes Gemüse aus den jeweils zitierten Wissensplantagen.
Dieser Beitrag gibt allein meine persönliche Meinung wieder und wurde ausserhalb meiner Arbeitszeit recherchiert und geschrieben.
Beat, Du hast es auf den Punkt gebracht, der Wissensschaftsjournalismus hierzulande ist ziemlich blutleer geworden und wird auch aktiv ausgeblutet. Und das bei den Milliarden, die unkommentiert in die Forschung wandern. Und den unkommentierten ausgedehnten PR-Aktionen von Science, Nature & Co.