Wer hat als erster den Nordpol erreicht? Seit über 100 Jahren wird um die Antwort gestritten. In den Geschichtsbüchern steht meist: Der Amerikaner Robert E. Peary wars. Aber viele Experten sind heute überzeugt, dass es Peary zwar bis in die Nähe des Nordpols geschafft hat, aber nicht an den Pol. Ist der amerikanische Eroberer und Volksheld ein Hochstapler?
Oyster Bay, New York, 7. Juli 1908. «Nun, Peary, auf Wiedersehen, und möge das Glück mit Ihnen sein.» Der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt hat es sich nicht nehmen lassen, sich persönlich von Polarforscher Robert E. Peary und seiner Crew zu verabschieden. Einen Tag vor dem Start des grossen Polarabenteuers inspiziert der Präsident das nach ihm benannte Expeditionsschiff über eine Stunde, schüttelt die Hände aller Crewmitglieder und freut sich über die blitzblank geputzten Planken.
Mit dem nächsten Sonnenaufgang beginnt für Kommander Peary das Abenteuer. An Bord des Schiffes sind 23 Mann Besatzung. Ziel ist ein Ort, an dem noch kein Mensch zuvor war. Die Männer reisen aber nicht nur mit den guten Wünschen des Präsidenten, sondern auch mit einer schweren Last. Die ganze amerikanische Nation schaut auf den kleinen Trupp und erwartet, dass sie die Flagge am Nordpol hissen werden. God bless America. Weder Peary noch seine Crew ahnen jedoch zu diesem Zeitpunkt, dass sie nicht die einzigen sind mit dem Ziel Nordpol. Ein anderer Polarforscher ist bereits vor Monaten aufgebrochen.
Peary ist ein bekannter und erfahrener Abenteurer und Offizier der amerikanischen Marine. Bereits sieben Versuche hat er unternommen, um den Nordpol zu erobern, sieben mal zwang ihn die Eishölle zur Umkehr. Seit über 20 Jahren verfolgt er sein Ziel, acht Zehen hat ihm die Kälte bereits abverlangt. Aber diesmal muss es einfach klappen.
800 Kilometer über Schnee und Eis
Die «Roosevelt» fährt von New York nach Norden, Richtung Grönland. Von dort sind es noch 800 Kilometer bis zum Pol. 800 Kilometer über Schnee und Eis, über Ungetüme von Eisbergen, über Eisspalten und darunter das eiskalte Meer. Die Mannschaft, die im März 1909 an der Küste Grönlands zum Nordpol aufbricht, besteht aus sechs Inuit, 17 Amerikanern, 133 Huskies, Hundeschlitten und Proviant. In den ersten Tagen kommen sie nur mühsam voran, pro Tag manchmal nur einen Kilometer. Erst nach dem 10. Tag wird die Landschaft flacher und die Stimmung der Mannschaft hellt sich auf. Peary weiss, wie man in der Kälte überlebt, er hat es bei früheren Expeditionen den Inuit abgeschaut.
Auf dem gesamten Weg zum Pol wendet Peary eine intelligente Taktik an, die er selbst entwickelt hat: Er schickt in regelmässigen Abständen Männer zurück. Dadurch spart er Transportgewicht. Am 1. April 1909 ist Peary nur noch wenige Tage vom Pol entfernt. An diesem Tag trifft er allerdings eine Entscheidung, welche die Historiker bis heute spaltet. Peary befiehlt Robert Bartlett umzukehren. Bartlett ist der erfahrene Navigator und Kartenleser im Team, der den Auftrag hat, den Weg zum Pol kartografisch festzuhalten. Er könnte am besten bestimmen, ob die Mannschaft den Pol erreicht hat oder nicht.
Stattdessen dürfen Pearys langjähriger schwarzer Diener mit, Matt Henson, sowie die vier Inuit Ootah, Egigingwah, Seegloo und Ooqueah. Warum muss der Kartenleser Bartlett umkehren? Ist er ein möglicher Konkurrent auf den Triumph? Ist der Diener der bessere Hundeschlittenführer? Jedenfalls gelten ab sofort nur noch Pearys Positionsbestimmungen.
Am 6. April 1909 erreicht Peary sein Lebensziel. Er hisst das Sternenbanner, macht Aufnahmen, die Männer gratulieren ihm zu seiner Parforce-Leistung. In sein Tagebuch aber, in dem er bis zu diesem Tag die Ereignisse festgehalten hatte, schreibt er an diesem Tag … nichts. Die Seite bleibt leer. Erst im Nachhinein reisst er an anderer Stelle eine Seite heraus, fügt sie ein und schreibt die berühmten Worte: «Endlich, der Pol. Der Preis für drei Jahrzehnte, mein Traum und meine Herausforderung für 23 Jahre. Endlich mein.»
Die Männer kehren zurück, durch die Eislandschaft, zurück nach Grönland. Ziel ist die Ortschaft Etah, Ausgangsort für Polarforscher und Walfänger. In Etah trifft Peary auf Harry Withney, einen Millionär, der auf Etah festsitzt, weil sein Schiff nicht kommt. Withney erzählt Peary von einer seltsamen Begegnung, die einige Wochen zurückliegt. Er habe im ewigen Eis Frederik Cook und zwei Inuit getroffen. Die drei hatten offenbar etwas beinahe Unmenschliches geschafft und im Eis überwintert.
Peary ist geschockt. Nach 18 Monaten ist dies das erste Lebenszeichen von Cook, der bereits als verschollen galt. Peary kennt Cook gut, denn Cook war auf früheren Reisen Pearys Schiffsarzt gewesen. Dann hatten sie sich allerdings zerstritten und Cook hatte den Plan gefasst, den Nordpol selbst zu erreichen. Wenn Cook es fertig gebracht hat, in der Polregion zu überwintern, hat er es dann sogar bis zum Pol geschafft? Peary muss plötzlich um seinen Triumph fürchten.
Peary erlaubt Withney die Rückfahrt auf seinem Schiff, aber er stellt Bedingungen: Cook hat Whitney verschiedene Messinstrumente und Dokumente für den Rücktransport anvertraut. Peary verbietet Withney, dieses Material aufs Schiff zu bringen. Er soll es in Etah zurücklassen. Dann fahren sie nach New York.
Der dänische Kronprinz gratuliert
Auf der anderen Seite des Atlantiks erreicht Frederik Cook am 4. September 1909 den Hafen von Kopenhagen, wo er als Poleroberer empfangen wird. Tausende auf dem Pier wollen den grossen Abenteurer sehen und ihm die Hand schütteln, auch der dänische Kronprinz. Die Telegrafen und Ticker verkünden die Botschaft um die ganze Welt: Cook hat den Nordpol erreicht. Beweise kann Cook allerdings keine vorlegen. Die werde er, so behauptet er, noch nachliefern. Die Universität Kopenhagen verleiht ihm derweil einen Ehrendoktor.
Als Cook wenig später für eine Vortragsserie in die USA reist, wird er auch dort gefeiert. Alle wollen seine Abenteuergeschichte vom Nordpol hören. Noch profitiert er vom Status des Underdog, der den grossen Peary in einem fairen Wettlauf besiegt hat. Auf die Frage der amerikanischen Medien, was er von Pearys Reise zum Nordpol halte, gibt sich Cook staatsmänisch. Der Triumph sei gross genug für beide.
Peary aber will nicht teilen. Er ist es gewohnt, zu befehlen, er erwartet äusserste Disziplin von seinem Umfeld, aber auch von sich selbst. Er hat viele bewundernswerte Charakterstärken – Teilen gehört nicht dazu.
Die Schlammschlacht beginnt
Peary mobilisiert einflussreiche Männer, die ihn in der Vergangenheit bei seinen Expeditionen unterstützt haben, zum Beispiel den Zeitungsverleger General Thomas Hubbard. Zu Hubbards Imperium gehört unter anderem die New York Times. In der Folge erscheinen mehrere Artikel in der Zeitung, die Zweifel an Cooks Geschichte säen. Peary beliefert die Zeitung mit einer Karte, die Cooks wahre Route zeigen soll – weit entfernt vom Nordpol. Die zwei Inuits, die Cook auf seiner Nordpolexpedition begleitet hatten, hätten gegenüber Peary bezeugt, dass sie während der ganzen Reise das Festland hätten sehen können. Was bedeuten würde, dass Cook sicher nicht am Pol war, denn der Pol liegt weit entfernt vom Festland.
Als nächstes behauptet Peary, Cook sei kein Mann von Ehre. Cook habe ihm seine gut ausgebildeten Eskimos weggeschnappt, ebenso wie verschiedene Vorrätelager geplündert, die Peary an verschiedenen Stellen in Grönland angelegt habe. Noch sind die Medien skeptisch und wollen Cook nicht einfach als Lügner hinstellen. Denn auch Peary kann keine Beweise für seine Eroberung vorlegen.
Auf die Frage eines Journalisten warum Peary das Material Cooks auf Etah einfach zurückgelassen und nicht auf sein Schiff mitgenommen hat, antwortet dieser: «Weil ich diesen Dingen keine grosse Aufmerksamkeit schenkte. Ist es nicht seltsam, dass Cook etwas derart Wichtiges in die Hände eines anderen Mannes übergab?»
Erst mit der Geschichte um den Mount McKinley kippt die Waage endgültig auf Pearys Seite. Im Jahre 1906 hat Cook den Mount McKinley bestiegen, den höchsten Berg Amerikas – so jedenfalls steht es in den Annalen der Bergsteigerei. Sein damaliger Bergführer Ed Barille sagt nun aber öffentlich: Cook sei nie auf dem Gipfel gewesen. Er habe es nur bis in die Nähe geschafft. Damit ist Cooks Glaubwürdigkeit im Eimer. Und wer einmal gelogen hat, dem glaubt man auch die Eroberung des Nordpols nicht mehr.
Peary erkauft sich den Triumph
Peary kann sich nun als alleiniger Poleroberer feiern lassen. Erst sehr viel später taucht ein Dokument auf, das die damaligen Geschehnisse rund um die Besteigung des Mount McKinley in ein anderes Licht taucht: ein Scheck über 5000 Dollar. Den Check hatte ein Anwalt Pearys Ed Barille überbracht. Der Check belegt, dass Barille Geld für seine Aussage bekam.
Allerdings gibt es keinen Grund, um mit Cook Mitleid zu haben, denn heute ist ziemlich klar, dass Cook nie am Nordpol war. Seine Originalaufzeichnungen, die während der Zeit im Eis entstanden, zeigen zu viele Unklarheiten gegenüber den späteren Angaben, die er in seinen Vorträgen der Öffentlichkeit präsentierte. So erwähnt er in seinen Originalaufnahmen eine Insel auf 85 Grad Nord, wo es weit und breit keine Insel gibt.
War denn wenigstes Peary am Nordpol? Um die Antwort wird bis heute gestritten. Es gibt einige Ungereimtheiten – wie der Eintrag in seinem Tagebuch am Tag der Poleroberung und die Tatsache, dass er seinen besten Navigator wenige Tage vor dem Ziel nach Hause schickte und danach die täglich zurückgelegten Kilometer sich plötzlich verdoppelten.
Und dann ist da noch Pearys Foto am Nordpol. Als Peary den Nordpol erreicht, schiesst er ein Foto, das später im Magazin National Geographic dazu dient, zu beweisen, dass Peary tatsächlich am Pol war. Um dies zu belegen, müsste die Sonne auf dem Foto exakt im Winkel von 6,8 Grad einfallen. Das könnte man zum Beispiel mit Hilfe des Sonnenstandes oder des Schattenwurfs auf dem Foto beweisen. Das Problem ist: Auf Pearys Aufnahme ist die Sonne nicht zu sehen. Peary war ein guter Mathematiker und wusste, dass man mit Hilfe des Sonnenstandes bzw. des Schattenwurfs eindeutig hätte klären können, dass er am Pol war. Warum ist auf seinem Foto weder die Sonne noch die Länge des Schattenwurfs eindeutig zu sehen? Pearys Fotos könnten laut heutigen Berechnungen am Nordpol aufgenommen worden sein, aber auch kilometerweit davon entfernt. Die National Geographic Society, der Pearys Fotos gehören, hat diese Beweisstücke nie für eine unabhängige Analyse freigegeben.
Viele Historiker sind sich heute einig: Peary war sicher näher am Pol als Cook, aber auch er hat den Pol nicht erreicht. Und einiges deutet darauf hin, dass er es wusste. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb am 11. September 1909: «Es gibt drei Lösungen in der Streitfrage: entweder haben beide Männer den Nordpol gefunden (…), oder es ist nur einer von ihnen ans Ziel gekommen, oder schliesslich, es haben sich beide geirrt und weder der eine noch der andere hat den neunzigsten Grad erreicht. Wir nehmen in diesem Fall unbedingt an, dass sie sich nur geirrt, nicht, dass sie die Welt hätten täuschen wollen. Wir müssen eben abwarten.»
Quellen: Terra X: Die Nordpol-Verschwörung, Archive von New York Times und Neue Zürcher Zeitung
Recherchen zu Kurzgeschichten mit finanzieller Unterstützung durch den Schweizer Klub für Wissenschaftsjournalismus SKWJ