Manchmal ist es bemühend, welche Banalitäten und alte Weggli Wissenschaftsredaktionen der Leserschaft zumuten. Eigentliche Rosinen mit Sprengkraft hingegen wie etwa die kernigen Aussagen des bekannten Krebsforschers Thomas Cerny kürzlich im SonntagsBlick finden kaum Resonanz bei der Journalistenschar.
Wir wissen fürwahr alle seit langem, dass schwarze Schokolade dem Herzinfarkt vorbeugt und Lebenssinn die Senioren vor geistigem Abbau schützt. Auch müssen wir wiederholt Studien gähnend zur Kenntnis nehmen, die kinderlose Menschen als weniger glücklich einstufen und die Frauen deutlich mehr den Vegetariern zuordnen als männliche Karnivoren. Und dies unter dem Label «Neues aus der Wissenschaft»!
Doch wer hat schon aus berufenem Munde gehört, dass Forscher bei Novartis meist nicht mehr zur Spitze gehören? Nämlich, weil ein Top-Wissenschaftler dorthin gehe, wo er die Neugierde ausleben könne und nicht, wo ihm ein «Marketing-Fritze» sagt, er müsse das 57. Medikament gegen Brustkrebs entwickeln. Die spitzen Erklärungen sind von Thomas Cerny, einem der prominentesten Onkologen des Landes, derzeit Präsident der Stiftung Krebsforschung Schweiz.
Pharmaforschung – altbacken, vor allem profitorientiert und zu wenig seriös
In einem gross aufgemachten Interview anlässlich des Todes von Kurt Felix im SonntagsBlick vom 27. Mai gibt der Chefarzt der Onkologie am Kantonsspital St. Gallen der Pharmaindustrie den Tarif durch. Die grossen Pharmakonzerne seien nicht mehr innovativ und würden die Krebsforschung behindern. Die Forschung sei auch zu stark kommerziell ausgerichtet. Sobald jemand ein Urheberrecht anmelde, würden andere dieses Gebiet nicht mehr genügend intensiv erforschen. Deshalb werde heute weniger seriös geforscht als vor 30 Jahren. Wir wüssten daher über alte Medikamente mehr als über neue. Wäre das gesamte verfügbare Wissen wie früher allen Forschern zugänglich, könnten wir für mehr Patienten schneller einen Nutzen generieren. Zudem sei die klinische Forschung in der Schweiz völlig verbürokratisiert.
In solch pointierten Worten stecken gewiss mehrere spannende Wissenschaftsgeschichten .Auch etlicher Zündstoff für wissenschafts- und gesundheitspolitische Themen liegt da brach. Zweifelsohne verfolgt selbst der ehrbare Professor Cerny seine partikulären Interessen, doch diese liessen sich herausarbeiten, beispielsweise in der Konfrontation mit dem Novartis-Forschungschef.
Wo kann ich denn diese Geschichten lesen, sehen oder hören? Sie wären wohl relevanter und auch aufregender als die häufigen Selbstdarstellungen in Porträts von Wissenschaftlern, die ihr Ego und Credo seitenlang ausbreiten können – wie vor einigen Monaten der deutsche Klimaskeptiker Fritz Vahrenholt, kürzlich der amerikanische Energie«prophet» und Physiknobelpreisträger Robert Laughlin (NZZaS vom 27.5.) oder auch das recht einäugige Bashing der Traditionellen Chinesischen Medizin durch den deutschen Public-Health-Spezialisten Paul Unschuld (TA vom 25.5.).
Noch einmal: Wo erfahre ich wieder mal etwas Hintergründiges, Überraschendes und Freches über die Forschung statt mich oft über die boomende Schulterklopf-Schreibe, den öden Verlautbarungsjournalismus und die bequemen Abfrage-Interviews zu ärgern? Solid recherchierte Geschichten, die den Geist aufwecken und die Ohren spitzen lassen – es gibt viel tun, liebe Medienleute!
Wer die beiden Artikel schneller finden möchte als ich:
„die kernigen Aussagen des bekannten Krebsforschers Thomas Cerny“, „im SonntagsBlick vom 27. Mai“. Dort „gibt der Chefarzt der Onkologie am Kantonsspital St. Gallen der Pharmaindustrie den Tarif durch.“
http://www.blick.ch/news/schweiz/krebs-kann-man-nicht-besiegen-id1899829.html
„das recht einäugige Bashing der Traditionellen Chinesischen Medizin durch den deutschen Public-Health-Spezialisten Paul Unschuld (TA vom 25.5.).“
http://www.tagesanzeiger.ch/wissen/medizin-und-psychologie/Die-Traditionelle-Chinesische-Medizin-ist-in-Wirklichkeit-ein-Kunstprodukt/story/17963803
Wir sind uns einig, dass schwarze Schokolade gegen Herzinfarkt und Unglück wegen Kinderlosigkeit langweilige Themen sind. Was die beiden Interviews betrifft, muss ich dir jedoch widerprechen.
Wenn Thomas Cernys die fehlende Innovationskraft der Pharmaindustrie, ihr Lobbying und zu hohe Preise beanstandet, ist das ebenfalls alt und langweilig. Die Aussage, dass Revilimid nur einige Franken in der Herstellung kostet und dehalb der monatliche Preis von 12’000 Franken pervers sei, mag richtig sein, aber dabei die enormen Forschungskosten zu unterschlagen, ist unlauter. Dass die „low hanging fruits“ bereits geerntet sein könnten, scheint Cerny nicht in den Sinn zu kommen. Und wenn es keiner Branche besser gehen soll, wieso entlässt dann Merck Serono 1250 Mitarbeiter?
Dagegen ist Paul Unschulds Betrachtung der Traditionellen Chinesischen Medizin in ihrem geschichtlichen und politischen Kontext sehr differenziert. Auf die (fehlende?) Wirksamkeit wird nicht einmal eingegangen. Worin genau siehst du also das „einäugige Bashing“?
Von Cerny lese ich alte Klischees, während Unschuld mir neue Aspekte zeigt. „Kernige Aussagen“ begrüsse ich zwar sehr, aber nicht auf Kosten relevanter Information.
@ Florian Fisch. Der Blick auf die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) durch die westliche Wissenschaftsbrille im TA-Interview mit Paul Unschuld ist einäugig, selbst wenn dabei der Leserschaft erhellende historische und politische Erkenntnisse vor Augen geführt werden. Die akademische Bewertung aus einer rein rationalen Perspektive wird der TCM nicht gerecht. Diese Heilkunde basiert auf einer ganz anderen Philosophie und hat einen völlig verschiedenen Realitätsbegriff, der neben dem intellektuellen Verstand auch Intuition, Emotionen und Instinkt einschliesst. Gerade das Konzept der frei fliessenden Energie Qi als Grundlage für Gesundheit lässt sich mit westlicher Wissenschaft nicht nachweisen, doch eine Fussreflexzonenmassage ist durchaus gesundheitsfördernd. Wenn der TA zum Thema eine ganze Seite belegt, sollten auch Gegenstimmen einbezogen werden (gleichzeitig oder einige Zeit später). Das wäre fair und aufschlussreich.
Zu Thomas Cernys kernigen Aussagen: Die Pharmaindustrie und ihre Forschung werden vor allem aus ökonomischer Sicht kritisiert, die Wirtschaftsjournalisten profilieren sich da bestens. Wissenschaftsjournalisten hingegen sind eher Insider (von der Ausbildung her!?) und beschreiben akribisch neue Wirkstoffe, Medikamente und Therapien, bringen aber keine Verbindungen zur Gesundheitspolitik zustande. Es wäre ja gerade spannend, das Malaise in der Pharmaforschung als Auslöser für gewisse Ungerechtigkeiten und Missstände im Gesundheitswesen aufzudecken (ungeachtet all der boomenden PR-Beilagen), z.B. dass Patienten eigentlich auf gewissen Gebieten medikamentös (bewusst) „unterversorgt“ werden, weil es in der Forschung harzt. Die Wirtschaftsjournalisten denken hier eben nicht über den Businessplan hinaus, Wissenschaftsmedienleute würden diesbezüglich mehr Aufklärung und höchst relevante Infos bringen, die vielleicht eher zu Veränderungen führen könnten (z.B. mit neuen Prioritäten in der öffentlich finanzierten Grundlagenforschung). Aber eben … man muss zuerst die Fragen stellen … hartnäckig recherchieren … dranbleiben … und als Freier erst noch die Story irgendwo unterbringen.
Beat: Felix Straumann vom Tagesanzeiger scheint deine Kritik gehört oder geahnt zu haben. Heute ist im Tagesanzeiger ein Interview mit Carla Fuhlrott, einer Therapeutin in Traditioneller Chinesischer Medizin. Ich finde allerdings ihre Aussagen weit weniger „kernig“ als die von Paul Unschuld.
admin: Kommentar auf Wunsch des Verfassers entfernt.
Unschulds Artikel hat mich aufgerüttelt, aber auch verunsichert bis verärgert, weil da wie bei der Pharma halt auch Propaganda iM Spiel sein soll, wem soll ich nun glauben?
Was mir heutzutage vielmehr fehlt ist die Sicht der PatientInnen: es müsste doch heutzutage möglich sein, deren vielfältige Erfahrungen online zu sammeln und auszuwerten. Ich denke zB an Artemisinin aus der in China heimischen Pflanze, die sowohl bei Krebs hilft, als -viel bekannter- auch gegen Malaria. Und ob selber aktiv sein, etwas hilft, das wäre doch spannend.