Die Fortschrittsgesellschaft stellt Kinder unter einen ausserordentlichen Leistungsdruck. Perfektion wird verlangt, vor allem in der Schule, aber auch abseits davon. Angemessenes soziales Verhalten will ebenso geübt sein wie Mathematik und Fremdsprachen. Aber können Kinder diesem Leistungsdruck und dem Ehrgeiz vieler Eltern überhaupt standhalten? Anders gefragt: Haben Kinder nicht ein Recht auf ihre Kindheit?
„Wir sollten Kinder so lassen, wie sie sind“, meinte dazu Prof. Roland Reichenbach, Ordinarius für Pädagogik und einer von drei Referenten am letzten Café Scientifique des Semesters. Reichenbach übte scharfe Kritik an der Verschulung der Kindheit, denn dadurch werde diese für den Menschen so wichtige Entwicklungsphase immer kürzer. Der Pädagoge wies mit einem simplen Beispiel auf die Veränderungen hin: „Das Alter zwischen 0 und 5 Jahren wurde früher ‚Spielalter‘ genannt, heute spricht man vom ‚Vorschulalter'“. Reichenbach hielt dies für sinnbildlich. Der Schulabschluss gelte heute grundsätzlich als Maxime, wodurch er zum sinnentleerten Begriff werde. Die Kinder lassen sich zwangsweise auf dieses Projekt ein, vergessen jedoch mit der Zeit, weshalb sie diesem Abschluss hinterherrennen. Das Problem liegt laut Reichenbach darin, dass jemand anderes den möglichst hohen Schulabschluss für wichtig halte, es sei nicht das Projekt der Kinder selber. „Das sture Stürmen nach Abschlüssen führt dazu, dass es den Kindern am Ende an Leidenschaft und Kreativität mangelt“, so der Pädagoge.
Chancen und Gefahren in der Entwicklungsphase
An diesen Punkt knüpfte Alexander Grob, Professor an der psychologischen Fakultät in Basel, nahtlos an. „Kinder sind extrem umweltoffen, die genetische Stabilität ist in dieser Phase noch relativ gering. Erst ab 19 Jahren dreht sich das Verhältnis, dann beträgt die Umweltoffenheit der Menschen nur noch etwa 20%“, erklärte Grob. Dass es gerade in der Phase grosser Umweltoffenheit für die Entwicklung der Kinder wichtig ist, die Welt selbst zu ergründen, selbst kreativ zu werden und sich einen eigenen Plan zu schmieden, liegt auf der Hand. Das Schwert ist also zweischneidig: Die ausgeprägte Umweltoffenheit der Kinder kann eine Chance sein, da ihr Potenzial in dieser Phase gut gefördert werden kann. Fällt der Start hingegen schlecht aus, kann sich dies ein Leben lang auswirken.
Die Frage nach dem richtigen Bildungssystem wird an diesem Punkt natürlich zentral und beschäftigte die Zuhörer in der Diskussion deshalb besonders. Die Meinungen und Wortbeiträge waren heterogen, ein Spiegel der vielschichtigen gesellschaftlichen und politischen Debatten rund um die Umstrukturierung und „Harmonisierung“ des Bildungssystems. So endete Grobs Plädoyer in der Forderung, man müsse „Stärken stärken“. Bildung sollte also vermehrt auf das einzelne Individuum zugeschnitten sein. Reichenbach konterte mit dem Argument, dass individuelle Förderung auch problematisch sein könne, weil sie zu einseitig verlaufe. Eine „perfekte“ Lösung gibt es nicht.
Verunsicherung der Eltern
Gewisse Spielräume im sozialen Verhalten und in der Gestaltung der Ausbildung sind also wichtig für eine gesunde Entwicklung der Kinder. Sie sollten nicht wie Thujahecken in der Landschaft stehen müssen, sondern ihren eigenen Weg finden, so das Credo der Teilnehmenden. Für die Eltern ist dies aber nicht immer einfach, da auch sie ihre Vorstellungen von der Entwicklung ihres Kindes in die Erziehung mit einfliessen lassen. Mit dem Referat von Prof. Wilhelm Felder von der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Bern wechselte die Perspektive denn auch von den Kindern zu den Eltern.
Felder zog zu Beginn seines Beitrags einen historischen Bogen und erklärte, dass seit den 70er-Jahren und dem Aufkommen antiautoritärer Erziehungsmethoden eine Vielzahl verschiedener Erziehungskonzepte im Raum stünden, und jedes dieser Konzepte liesse sich mit diversen Argumenten rechtfertigen. Dies habe zur Verunsicherung der Eltern entscheidend beigetragen. Und in dieser Überforderung der Eltern sieht Felder auch die Zunahme psychischer Störungen bei Kindern begründet. „Dass Eltern heute zunehmend überfordert sind, liegt an der reduzierten Unterstützung für sie“, sagte Felder. Einerseits seien Eltern heutzutage mehr noch als früher mit der eigenen Entwicklung beschäftigt, beispielsweise was ihre individuellen Karrieren angehe. Andererseits habe die stärker akzentuierte Adoleszentenkultur eigene Dynamiken ausgelöst, mit denen Eltern teilweise nicht mehr mithalten können. Kinder und Jugendliche werden zu Experten in Bereichen, in denen sich Eltern aufgrund der Generationenlücke nicht auskennen – die oft normativ aufgeladene Debatte um Für und Wider der Nutzung von Social Network Sites wie Facebook dient hier als gutes Beispiel. Diese Aushandlungsprozesse könnten zwar förderlich sein, wie Moderator Christoph Keller argumentierte. Problematisch, so Felders Konter, sei jedoch die Vielzahl an Rezepten, die den Eltern als Antwort auf ihre Fragen angepriesen werden. Denn dies trage nur noch weiter zur Verunsicherung der Erziehenden bei.
Kinder als Projekte in der Multioptionsgesellschaft
Doch woher kommt die Tendenz einiger Eltern, ihre Kinder zu hochbegabten Lernmaschinen formen zu wollen? Laut Pädagoge Prof. Reichenbach sei einer der Gründe im Rückgang der Geburtenzahl zu finden. Es ist heute üblich, nur ein Kind zu haben. Dieses soll dann dafür umso erfolgreicher sein. Der Psychologe Prof. Grob wies darauf hin, dass Kinder für den Lebensentwurf der Eltern extrem wichtig seien in Zeiten, in denen Kinderwünsche derart durchgeplant werden. Letztlich verortete er das Problem in der Multioptionsgesellschaft: Kinder seien ein mögliches Projekt neben einer Überfülle an anderen Beschäftigungsmöglichkeiten, die erwachsenen Menschen heutzutage zur Verfügung stünden. „Wenn man sich dann für das Projekt ‚Kinder kriegen‘ entscheidet, steckt man entsprechend viel Energie hinein“, so Grob. Daraus entsteht, was Felder die „Illusion der Machbarkeit perfekter Kinder“ und daran anknüpfend die „Illusion der Machbarkeit perfekter Bildungsbedingungen“ nannte. Leidtragende sind die Kinder, die Lebensentwürfe vorgegeben erhalten, die sie im Sinne einer optimalen Entwicklung besser selber erstellen sollten. Das Erreichen von Perfektion als ultimatives Ziel einer Leistungsgesellschaft, das doch nie erreicht werden kann. Gerade dann nicht, wenn man es forciert.
Fazit: Es gibt keine perfekten Kinder, es sollte auch keine geben müssen. Es gibt auch kein perfektes Schulsystem und selbst die Technik ist nicht perfekt. Der Beamer im Café streikte und so mussten die Referate ohne Powerpoint-Visualisierung auskommen. Wir lernen: Nichts und niemand war perfekt an jenem Nachmittag. Die Ausnahme bildete ausgerechnet das sonst so wankelmütige Sommerwetter.
Dieser Artikel wurde von der Universität Basel in Auftrag gegeben und bezahlt.