Zu Beginn einige Gewissheiten: Das Café Scientifique öffnete vergangenen Sonntag seine
Türen für die erste Veranstaltung im neuen Semester. Drei Referenten aus unterschiedlichen
wissenschaftlichen Disziplinen waren eingeladen und sprachen zum Thema „Wahrnehmung
und Wirklichkeit“ aus der Perspektive ihres je eigenen Fachgebiets. Fakt war auch, dass das
Café ausserordentlich gut besucht war – manche Spätgekommene fanden sich an dem
Nachmittag gar mit der Realität eines Steh-Café Scientifique konfrontiert. Anscheinend, aber
dies ist nur eine mögliche Interpretation, stiess die Thematik auf breites Interesse.
Vielleicht war aber auch bloss das Regenwetter ausschlaggebend für den grossen Andrang.
Möglich auch, dass sich unter den Zuhörern besonders viele Fasnachtsmuffel befanden, die
dem Bummelsonntag entfliehen wollten. Eine scharfe Trennung von subjektiver Wahrnehmung und objektiver Wirklichkeit ist also schon bei diesem banalen Beispiel schwierig vorzunehmen. Die drei geladenen Experten versuchten in ihren Beiträgen trotzdem, sich einer Erkenntnis anzunähern. Ihre ungleichen Fachgebiete zeigen, dass das Problem des Verhältnisses von Wahrnehmung und Wirklichkeit aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden kann.
Halluzination als Krankheitsbild
Prof. Stefan Borgwardt, der Leitende Arzt der Psychiatrie im Unispital, stellte in seinem
Inputreferat die Methoden der deskriptiven Psychopathologie vor, der „Lehre vom Leiden der
Seele“, wie er erklärte. Ihr Ziel ist die Beschreibung von Phänomenen, die psychisch kranke
Personen erleben und unter denen sie zu leiden haben. Borgwardt spielte zur
Veranschaulichung eine Szene aus dem Film „Das weisse Rauschen“ von Regisseur Hans
Weingartner vor, in der der Hauptprotagonist während einer Autofahrt plötzlich akustische
Halluzinationen erleidet und Stimmen hört, die seine Beifahrer nicht vernehmen. Borgwardt
erklärte daraufhin die Vorgehensweise, nach der solche Patienten behandelt werden: „Der
Patient wird genau befragt, in welchen Momenten er die Stimmen hört, ob die Stimmen
miteinander sprechen, oder ob sie zu ihm sprechen.“ Manche Patienten erhalten von den
Stimmen sogar Befehle, die sie dann ausführen: „Je nachdem kann das für die Patienten oder
ihr Umfeld gefährlich werden“, meinte Borgwardt.
Wie eine Gesellschaft Normalität und Wirklichkeit definiert, interessiert in der
Psychopathologie demnach nicht. Genauso wenig wie die gesellschaftliche Bewertung von
Trugbildern und Illusionen. Was zählt, ist gemäss Borgwardt einzig und allein „das Leiden
des Patienten beziehungsweise wie er es erlebt“. Der Fokus liegt auf der Erfahrungswelt einer
Einzelperson, mit dem gesellschaftlichen Realitäts- und Illusionsbegriff beschäftigt sich
Borgwardt während seiner Arbeit nicht. Auf die Frage aus dem Plenum, wo bei Illusionen
oder Halluzinationen die Grenze zum Krankhaften lägen, erwiderte er, dass Halluzinationen
„in allen Gesellschaften als nicht normal angesehen“ würden, jedoch „nicht per se als
krankhaft“. Halluzinationen würden in manchen Kulturen sogar aktiv herbeigeführt und
positiv bewertet. Gerade deshalb komme es bei der Frage nach der Grenze zum Krankhaften
aber auf das Individuum an, sprich auf die Frage, ob es unter den Halluzinationen oder
Illusionen leidet oder nicht.
Täuschung und ihre Überwindung
Mit ähnlichen Fragen, aber ganz unterschiedlichen Ansätzen, beschäftigt sich Dr. Wolfram
Gobsch. Er ist Assistent am Philosophischen Seminar in Basel und konzentrierte sich in
seinem Vortrag auf den Begriff der Täuschung, worunter er „sowohl Sinnestäuschungen wie
Halluzinationen und Illusionen, als auch Irrtümer“ fasste. Seinen Ausgangspunkt nahm er im
Skeptizismus, welcher behauptet, dass die Möglichkeit zur Täuschung immer bestehe.
„Gewissheit“, so Gobsch, „ist somit laut den Skeptikern nie zu erreichen, denn Täuschung ist
immer möglich, manchmal ist sie gar unsichtbar“. Gobschs Kritik am Rande: Wie können die
Skeptiker eine Prämisse formulieren, deren Konklusion doch besagt, dass eben das Aufstellen
von feststehenden Prämissen unmöglich ist? Seine Schlussfolgerung lautete deshalb, dass der
Mensch als denkendes Wesen in der Lage sei, „prinzipiell jede Täuschung zu durchschauen“.
Die grundlegende Feststellung des Skeptizismus, Täuschungen könnten jederzeit vorkommen,
hält Gobsch zwar für richtig. Er widersprach jedoch der Schlussfolgerung dieser Lehre, dass
Wissen oder Gewissheit prinzipiell unmöglich sei.
Täuschungen oder Illusionen zu überwinden und den Weg zur Erleuchtung zu finden, ist auch
das Ziel fast aller Religionen dieser Welt. Der Beitrag von Prof. Reinhold Bernhardt vom
Theologischen Seminar knüpfte somit nahtlos an die philosophischen Überlegungen zur
Täuschung an. Am Beispiel der Offenbarungsreligionen wies er auf deren Bestreben hin, die
„Oberfläche der Wirklichkeit zu durchdringen, den Schleier des Scheins wegzureissen, um
sich neue Erkenntnisse zu erschliessen“.
Religionskritiker werfen den Religionen jedoch vor, die Menschen ebenfalls zu verklären.
Religion als Rauschmittel des Volkes – diese Kritik hatte bekanntermassen schon Marx
formuliert. Sein Vorwurf: Die Religion schmücke die Ketten der Unterdrückung mit Blumen.
Bernhardt wies die Zuhörer in seinem Referat auf die grundlegende Polarität der Religionen
hin, die den Menschen einerseits den Pfad zur Erleuchtung weisen wollen, die aber
gleichzeitig zu deren Verklärung beitragen.
Die Bewertung von Sein und Schein
Hier zeigt sich das normative Potenzial in der Diskussion um Sein und Schein. Es war deshalb
kein Zufall, dass sich einige Fragen aus dem Publikum explizit auf die Bewertung von
Illusionen bezogen. Podiumsleiter Christoph Keller stellte zur Diskussion, ob es denn auch
positive Illusionen oder fruchtbare Irrtümer gebe. Der Philosoph Dr. Wolfram Gobsch meinte,
dass „der Weg zu einer Erkenntnis durchaus über eine Illusion möglich“ sei. Illusionen gar als
Essenz des Lebens zu sehen, lehnte er aber ab: „Sie müssen eine Ausnahme bleiben,
ansonsten kann es keine stabile Lebensform geben.“
Prof. Reinhold Bernhardt plädierte hingegen für die Wertneutralität in der Debatte. Er wies
darauf hin, dass die „Grenzen zwischen Illusion und Wahrnehmungserweiterung oftmals
fliessend“ seien. Ein Mensch könne zum Beispiel glauben, dass es Einhörner gebe. Sein
Glaube an das Einhorn könne so stark sein, dass es für ihn real werde, auch wenn Einhörner
nicht in Wirklichkeit existieren. Ähnlich verhalte es sich mit Hoffnungen: „Hoffnungen sind
wie Illusionen, von denen ich hoffe, sie gingen in Erfüllung, auch wenn sie das in
Wirklichkeit nicht tun.“ Besonders an einer Stelle stimmte er mit der Sichtweise der
Psychopathologie überein: Illusionen seien nur dann gefährlich, wenn ein Mensch unter ihnen
leidet oder er anderen Menschen deswegen Schaden zufügt. Sonst nicht.
Was also ist Realität? Gibt es überhaupt eine objektive Wirklichkeit? Oder schafft sich jeder
Mensch seine eigene Wirklichkeit? Diese letzte Frage verneinte der Philosoph Dr. Wolfram
Gobsch, denn „unser Denken wird über die Generationen weitervermittelt, wir sind keine
Denk-Atome“. Wahrheit ist somit immer bestimmt durch die Wahrheit einer Gesellschaft. Es
scheint also doch eine objektive Wirklichkeit zu geben, nur nimmt sie jeder aus seiner
individuellen Perspektive und vor seinem je eigenen lebensweltlichen Hintergrund wahr.
„Trotzdem“, so Prof. Bernhardt abschliessend, „hat Wirklichkeitswahrnehmung immer den
Anspruch, der Realität zu entsprechen. Sie ist nicht nur einfach konstruiert“. Es gibt sie, die
objektive Wirklichkeit. Und sie wirkte am Sonntagnachmittag auch auf das Café Scientifique
ein: Immer wieder drang der fasnächtliche Lärm aus den angrenzenden Gassen in den Hörsaal
des Pharmazie-Historischen Museums. Dass deshalb die Beiträge der Referenten manchmal
nur schwer zu verstehen waren, war schliesslich für alle Anwesenden gleichermassen real.
Dieser Artikel wurde von der Universität Basel in Auftrag gegeben und bezahlt.