2010 hat das Versandhaus Amazon in den USA erstmals mehr E-Books als Taschenbücher verkauft. Zwar hat die elektronische Revolution den europäischen Kontinent noch nicht in diesem Ausmass erreicht, jedoch boomen auch hier die elektronischen Bücher. Immer häufiger blättern Leser und Leserinnen nicht mehr Seiten um, sondern streichen mit der Fingerkuppe über einen Touchscreen. Literatur wird digitalisiert, das Lese-Erlebnis multimedialisiert. Dass das E-Book jedoch nur ein einzelnes Phänomen eines sehr komplexen und vielschichtigen Feldes ist, verdeutlichten die Referate der drei Spezialisten am Café Scientifique vom 17. April zum Thema „E-Book und Hyperfiction“.
„Ich gehe nicht davon aus, dass Sie viel über das Thema digitale Literatur wissen“, erklärte Roberto Simanowski gleich zu Beginn der Veranstaltung. „Die digitale Literatur hat kein breites Publikum“, rechtfertigte der Medienwissenschaftler seine Unterstellung. Tatsächlich referierten die Experten über Phänomene, die weit über gemeinhin bekannte Trends wie elektronische Bücher oder Weblogs hinausgingen. Während lineare Texte, die in traditioneller Manier verfasst und danach im Internet gespeichert werden, um schneller und kostengünstiger zugänglich zu sein, als digitalisierte Literatur bezeichnet werden, handelt es sich bei der digitalen Literatur um Inhalte, die nicht einfach ins neue Medium übertragen werden, sondern die unmittelbar in und aus dem Internet entstehen. Eine wichtige Unterscheidung, die sich das Publikum anhand der genannten und gezeigten Beispiele selbst erarbeiten musste. Am hilfreichsten war hierfür der Beitrag von Johannes Auer. Er vermittelte einen Einblick in seine Arbeit als Netzliterat und Konzeptkünstler und veranschaulichte dabei, wie mit dem Internet Kunst und Literatur entsteht. „Künstliche Literatur per se interessiert mich nicht“, verdeutlichte der deutsche Künstler seine Position: „Was mich interessiert ist, wie der Mensch sich integrieren kann, wenn Literatur vom Computer erzeugt wird.“ Zentral sei also die Frage danach, wie man menschliches Handeln mit einem digitalen Setting verschränken könne. Die Antwort auf seine Frage lieferte der Künstler gleich mit: Mit drei Projekten – sie heissen searchLutz, searchSong und searchSonata181 – hatte Auer seine abstrakten Ideen in die Praxis umgesetzt. Bei der Search-Trilogie wurden in Echtzeit Worte, die bei Suchmaschinen, wie zum Beispiel Google, eingegeben wurden, verarbeitet und in andere Datenformate umgewandelt: Bei searchLutz in Texte, bei searchSongs in Töne und bei searchSonata181 in Laute. „Die eingetippten Suchbegriffe sind Ausdruck von Sehnsüchten und Begehren“, erklärte Auer die Grundidee seiner Projekte: „Durch die Vermenschlichung der Präsentation wird diese künstlich erzeugte Poesie in natürliche Poesie umgewandelt.“ Zur Veranschaulichung zeigte Johannes Auer Videoaufnahmen seiner Trilogie. Die Cellistin, welche die Musik live spielte, die bei searchSongs entstanden war, überraschte mit erstaunlich melodiösen und angenehmen Klängen. Die junge Frau hingegen, welche stockende und zusammenhangslose Laute, die bei searchSonata181 entstanden waren, in ein Mikrofon sprach, erzeugte bei manchen Zuschauern Stirnrunzeln und Schmunzeln.
„It is just play with text“, kommentierte Medienwissenschaftler Roberto Simanowski die teilweise ungewohnten Formen der digitalen Literatur und lieferte seinerseits ein Beispiel für den spielerischen Umgang mit Texten. Simanowski zeigte in seinem Vortrag Videoaufnahmen einer Kunstinstallation, bei der Wörter, die von Internetusern in Suchmaschinen eingetippt wurden, aus Wassertropfen geformt werden und – als wären es Regentropfen – einem Vorhang ähnlich aus der Installation herausfallen. „Bei der digitalen Literatur kann mit der räumlichen Anordnung eines Textes gespielt werden“, beschrieb Simanowski das Prinzip der Installation. Wurde herkömmliche Literatur also auf dem Papier niedergeschrieben, so steht die digitale Literatur nicht still. Das Wort bewegt sich, die visuelle Ebene gewinnt an Bedeutung. Verfasst wird der Text nicht von einem Autor, sondern von vielen anonymen Autoren, welche sich dessen oft gar nicht bewusst sind.
„Wie reagiert nun die gedruckte Literatur auf diese neue Art der digitalen Literatur?“, stellte Philipp Schweighauser, Professor am englischen Seminar der Universität Basel, die entscheidende Frage und machte sie zum Kernpunkt seines Beitrags. „Mein Teil mutet wohl am antiquiertesten an“, merkte der Spezialist für amerikanische Literatur an und wies damit darauf hin, dass er sich selbst eher auf Seite der klassischen, denn auf Seite der digitalen Literatur verorte. Um die zentrale Frage seines Referats zu beantworten, verwies Schweighauser auf den Medientheoretiker Marshall McLuhan. Dieser hatte 1964 die These formuliert, dass der Inhalt eines Mediums immer ein anderes Medium sei. „Zum Beispiel enthält das Buch das gedruckte Wort, das gedruckte Wort enthält die Handschrift, die Handschrift enthält das gesprochene Wort“, konkretisierte Schweighauser die These. „Man könnte also fragen ‚Wär hets erfunde‘?“, witzelte der Literaturexperte. Somit würden neue Medien immer alte Medien in sich aufnehmen und diese beinhalten. Ein Prozess, der jedoch auch in die Gegenrichtung stattfinde. „Zunehmend kommen Bücher auf den Markt, deren sinnliche und haptische Qualität der Computer nicht simulieren kann“, erzählte Schweighauser voller Begeisterung und zeigte dem Publikum aufwändig und kreativ gestaltete Bücher: Kunstvolle Umschläge, qualitativ hochwertige Materialien, innovative Falt- und Klappsysteme, beigelegte Extras wie Fotos oder Zeitdokumente. Solche Spielereien seien ein Versuch, den zahlreichen Möglichkeiten und digitalen Effekten des Internets etwas Haptisches entgegenzuhalten. Ob das aber überhaupt notwendig ist? „Es zählt nicht nur der Text, es ist die materielle Verfassung des Buches, die das Lesen zum Erlebnis macht, zum Beispiel der Umschlag oder die Dicke des Papiers“, erklärte Schweighauser, sichtlich enthusiastisch. Wenn die gedruckte Literatur auf die digitale Literatur mit Innovationen und Neuheiten reagiere, so handle es sich dabei um Einzelfälle. Grundsätzlich seien die Verkaufszahlen der gedruckten Bücher gut und die Negativszenarios, welche das Verschwinden des klassischen Buches prognostizieren, falsch. „Bücher bestehen in ihrer traditionellen Form neben den neuen Technologien weiter“, betonte der Literaturexperte.
Mögen also die Verkaufszahlen der E-Books steigen und die Entstehung von Literatur in und mit dem Internet zunehmen – die traditionelle Literatur und ihre klassische Distributionsform als gedrucktes Buch bleiben bestehen. Sie präge auch weiterhin die neuen Formen der Literatur, welche sich immer wieder auf die alten Medien rückbeziehen würden, fasste Moderatorin Odette Frey die Diskussion zusammen. Man müsse sich halt, so ergänzte Simanowski, auf die neuen Dinge einlassen. „Man muss sich nicht immer fragen, was etwas bedeutet. Bei der Musik macht man das ja auch nicht. Man geniesst einfach“, forderte der Medienwissenschaftler. Ein Zuhörer meldete sich und stimmte ihm zu: „Das ist ein bisschen wie beim Tanzen. Es gibt das klassische Ballett, das macht Sinn und erzählt eine Geschichte. Und dann gibt es den Ausdruckstanz. Der macht keinen Sinn, aber berühren kann er trotzdem.“
Dieser Artikel wurde von der Universität Basel in Auftrag gegeben und bezahlt.