Michael Feld, 34 Jahr alt, Vergewaltiger. Eine klassische forensische Karriere: Bereits in der Schulzeit hatte er schlechte Gedanken, anormale Fantasien. Mit zunehmendem Alter wurden diese immer häufiger, immer intensiver. Als Erwachsener schliesslich vergewaltigt Michael eine Frau. Er fängt sie auf dem Nachhauseweg ab, zerrt sie in ein Gebüsch.
Dass Gewalttäter bereits im Kindesalter die Neigung zu kriminellen Handlungen haben, sei typisch – so das Ergebnis zahlreicher Studien des Neurowissenschaftlichen Pre-Crime Centers in Stuttgart. Die Wissenschaftler des Centers haben bewiesen, dass die meisten Gewalttäter bereits in jungen Jahren veränderte Hirnstrukturen aufweisen. Aufbauend auf dieser Erkenntnis, bietet das Center nun Abhilfe: Ein Schrittmacher im Kopf macht Kriminelle zu frommen Bürgern. Ein kleiner Mikrochip wird implantiert und sorgt mit elektronischen Impulsen dafür, dass keine bösen Gedanken zustande kommen.
Sexualstraftäter Michael ist durch den Chip zu einem ausgeglichenen und zufriedenen Mensch geworden. Gewalttätige Fantasien hat er keine mehr.
Wer angesichts dieses Szenarios Gänsehaut bekommt, kann aufatmen: Weder Michael, noch der Schrittmacher für den Kopf oder das Pre-Crime Center sind real. Sie entstammen alle dem transmedialen Projekt „Alpha 0.7“. Narratologin Marie-Laure Ryan stellte das innovative Konzept an einem ausserordentlichen Café Scientifique vor. Organisiert wurde die Veranstaltung mit dem Titel „Transmedial Storytelling & Medienkonvergenz“ von Roberto Simanowski vom Institut für Medienwissenschaft und von Philipp Schweighauser vom Englischen Seminar der Universität Basel.
„Es gibt Geschichten, die sind zu gross, um in einem Medium erzählt zu werden“, eröffnete Marie-Laure Ryan ihr Referat. Sie müssten deshalb transmedial verarbeitet werden. Derselbe Inhalt wird in verschiedenen Medien aufbereitet und so auf unterschiedliche Weise vermittelt. Dieses Prinzip sei jedoch nicht neu, erklärte die Expertin für experimentelles Erzählen. Bereits die Bibel sei multimedial vermittelt worden: Sie existierte als geschriebenes Buch, wurde aber auch in den Gottesdiensten gelesen, auf Gemälde gezeichnet, in Fensterbildern dargestellt, als Lieder gesungen.
Neuartige Erzählweise
Innovativ ist das „Alpha 0.7“-Projekt aber trotzdem. Es begann 2010 mit einer sechsteiligen Fernseh-Serie und wurde zu einem weitumfassenden Erzählkosmos ausgeweitet. Radio-Sendungen, Weblogs, Youtube-Videos, Tweets, Websites und Online-Tagebücher – Die Geschichte wird über zahlreiche Medien weitergespannt und ausgebaut. Doch es ist nicht nur die Multimedialität, die den „Alpha 0.7“-Kosmos auszeichnet und zu etwas Neuartigem macht. Innovativ ist die Geschichte ebenso wegen ihrer starken Verzahnung mit der Realität. Dass die Website des Pre-Crime Centers nicht real ist, findet der Betrachter beispielsweise erst heraus, wenn er eine E-Mail an die angegebene Firmen-Adresse sendet. Dann nämlich erhält er ein Antwortschreiben, welches ihn über die wahren Umstände aufklärt. So verhält es sich mit vielen Aspekten der Parallelwelt. Die Medien der erzählten Welt sind die Medien der realen Welt. Doch nicht nur die Art der Erzählung ist an die Realität angekoppelt, auch der Inhalt der Erzählung: Die Geschichte spielt in Stuttgart im Jahr 2017. Es ist die Welt, wie wir sie heute kennen, sie wurde lediglich weiterentwickelt: Körperscanner gehören zur Normalität, Telefongespräche werden abgehört, Überwachungskameras sind allgegenwärtig. Eine panoptische Gesellschaft. Erst als die Regierung auch noch die Einführung von gedankenlesenden Brainscannern plant, regt sich in der „Alpha 0.7“-Bevölkerung Widerstand. „Das transmediale Universum von Alpha 0.7 stellt unsere Welt, wie sie in sieben Jahren sein könnte, dar. Diese Nähe zur Realität macht die Geschichte attraktiv“, erläuterte Marie-Lauren Ryan den Reiz des Produkts.
Unendliche Geschichte
Doch nicht nur die Realitätsnähe, auch das explorative und partizipative Potential der Sendung sei attraktiv für die Zuschauer. Sie selbst lese gerne dicke Bücher, weil sie lange Zeit in derselben Fantasiewelt verweilen könne, erzählte die Narratologin. „Alpha 0.7“ intensiviere dieses Erlebnis. Für die Rezipienten würden sich nahezu unerschöpfliche Möglichkeiten ergeben, die Fantasiewelt zu erkunden und zu erleben. Auf der Homepage stehen beispielsweise Rätsel zur Verfügung oder zahlreiche Links zu weiteren Websites und Beiträgen. Stundenlang kann man also im „Alpha 0.7“-Universum verweilen, ohne dass die Geschichte zu Ende geht.
Das Prinzip der Transmedialität funktioniere aber nicht für alle Geschichten, relativierte Marie-Laure Ryan. Damit eine Geschichte transmedial funktioniere, brauche sie starke und einprägsame Charaktere mit Wiedererkennungswert. Die Welt, in welcher sich die Geschichte abspiele, müsse zudem divers sein, ergänzte Ryan. Es brauche also viele verschiedene Akteure, Schauplätze, Institutionen und Bereiche: „So wie das bei Alpha 0.7 der Fall ist“. Denn nur durch diese Diversität könne beim Rezipienten die Lust zum Erkunden und Erforschen der Parallelwelt geweckt werden, verdeutlichte die Expertin. Sei diese Lust erst einmal geweckt, funktioniere der Rest quasi von alleine. „Sobald wir uns mit einer Welt auseinandergesetzt haben, also kognitive Arbeit investiert haben, wird diese uns vertraut. Und dann wollen wir immer und immer wieder zu ihr zurück kehren“, resümierte Marie-Laure Ryan ihren Vortrag.
Dieser Artikel wurde von der Universität Basel in Auftrag gegeben und bezahlt.