Die dramatischen Ereignisse im AKW Fukushima zeigen eindrücklich die Grenzen sowohl des Journalismus wie auch der Expertokratie auf – und dies notabene in höchst entwickelten Ländern und bei modernster elektronischer Vernetzung. Die Neubeurteilungen des Zustands der sechs Reaktorblöcke jagen sich stündlich, basieren aber auf äusserst wackligen Grundlagen. Journalisten wie auch Experten stützen sich beide auf die gefärbten Aussagen der japanischen Regierung und der Betreiberfirma Tepco, raffen jedoch weitere „unbestätigte Fakten“ via Google aus andern Quellen zusammen (Wikipedia, NHK, Greenpeace etc.), um damit schlussendlich ihre „Einschätzung“ zusammenzuzimmern – mit einer Halbwertszeit der Informationen von höchstens einigen Stunden.
Wer nichts weiss, muss glauben
Dabei zeigt sich angesichts der grossen Distanz zum Katastrophenort ein groteskes Phänomen: Journalisten und Experten vermischen ihre Rollen. Aufgrund der unsicheren Nachrichtenlage ist dieser professionelle Kostümwechsel zwar verständlich, doch den urtümlichen Aufgaben der beiden Berufszweige unangemessen: Auf der Gutachterseite sollten eigentlich das nötige Fachwissen und eine verlässliche Beurteilung die Basis liefern für kompetente Antworten auf kritische Fragen seitens der Journalisten, die dann die Vorfälle in den Massenmedien verständlich aufbereiten und einordnen können. Doch wir beobachten jetzt, wie selbst erfahrene Experten – wie wir Normalbürger – mutmassen, hoffen, bangen, ja sogar glauben, aber effektiv nichts Genaues wissen. Und die Journalisten beten diese Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten und sonstigen Spekulationen artig nach und reichern sie an mit zusätzlichen elektronisch recherchierten „Wahrheiten“. Wer nichts weiss, muss eben glauben. Dieser Schluss spiegelt sich auch bei den Nachrichten in den Medien: Je höher die Ungewissheit, desto länger sind die Berichte und desto zahlreicher die Sondersendungen. Der Kopf schmerzt ob dieser Fülle an Zahlen, Grafiken, Karten und technischen Erklärungen zur Atomkraft, aber auch ob all der inflationären Kommentare zum Wort der Woche, dem „Restrisiko“. Viele Leute schalten nach kurzer Zeit ab.
Mut zur medialen Lücke
Relevantes Wissen aus erster zuständiger Hand ist somit im (atomaren) Katastrophenfall auch im Internet-Zeitalter eine Schimäre geblieben, trotz (oder gerade wegen?) der Sozialen Medien. Verbreitet werden vielmehr schnelle Second-Hand-News, meistens geschönt durch offizielle Verlautbarungen oder dann beschwert durch ideologischen Ballast. Der durchschnittliche Medienkonsument bleibt so klug wie zuvor, aber er wird aufgeregt – und mehr verunsichert als verlässlich benachrichtigt. Eine Lösung zeichnet sich nicht ab. Vielleicht wäre weniger mehr. Es fehlt aber der Mut zur medialen Lücke. Damit gäbe es möglicherweise Platz, um besonnen über die Situation in Japan und deren Konsequenzen (auch für uns) nachzudenken. Im globalen Informationsgetöse und dem gnadenlosen Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit erscheint dieser Wunsch hingegen als naive Illusion.
Ich unterstütze deinen Antrag für eine mediale Lücke. Mein Füllvorschlag: Anstelle der Vermutungen, Halbwahrheiten und Pseudoneuigkeiten einfach den Wissenschaftsredaktor heranziehen und einmal richtig erklären, wie ein Atomkraftwerk funktioniert, was radioaktiver Zerfall ist oder nur schon, wie man die radioaktive Strahlung misst.
Irgendwelche Umfragen starten, welche die Meinung der Bevölkerung im Affekt wiedergeben (wie soeben in den Sonntagszeitungen) scheint mir jedenfalls das am wenigsten Sinnvolle: http://www.lematin.ch/actu/suisse/suisses-veulent-fermer-beznau-muehleberg-396697
Immerhin kann man festhalten, dass ab und zu jetzt auch mal Wissenschaftsjournalist(inn)en zu Wort gekommen sind. Ich denke da etwa an Radio DRS, das sich nun erst recht glücklich schätzen darf, eine Wissensredaktion zu haben. Allerdings geht es den W-Jous ja wie anderen auch. Da hast Du, weil aktuell lange kein Bedarf danach war, das Meiste, was Du über Atomernergie, Halbwertszeizten, Caesium-Isotopen gewusst und aufbewahrt hast, entsorgt oder etwas weiter weg gespeichert. Und dann musst Du sozusagen von 0 auf 100 „Experte“ sein und einsammeln (sowie verständlich machen), was andere „Experten“ sagen.
Darum bewundere ich die Leistungen unserer Kolleg(inn)en, die da in Ton und Bild auftreten mussten und den (für die Deutschsprachigen Medien oder zumindest die Schweiz typischen) atemlosen Fragen nach den, so schien es, sehnsüchtig erwarteten bösen Folgen des Ganzen standhielten und zu sagen wagten, man wisse zu wenig, man könne darum auch nicht viel sagen. Die mir sehr sympathischen Satzanfänge waren „Schwer zu sagen…“.
Ich finde, man sollte diese elenden Scheindialoge, wo ein(e) Moderator(in), der/die selbst nichts weiss, aber „bewegt“ ist, Fragen stellt und der/die arme Korrespondent(in) oder Facfperson Antworten oder eben „Einschätzungen“ geben muss, ersatzlos aufgeben.
Wir haben jetzt erlebt, dasa selbst eine Triple-Mega-Katatstrophe medial von Anfang an scheinbar lückenlos mitverfolgt werden kann und gesehen, dass man trotz allen Bildern nicht viel über die Details und die Zusammenhänge erfährt.
Ich hab so viele Male die Twintowers zusammen brechen sehen, jetzt sieht man entsprechend als lebendes Signet die Knallgas-Dampfexplosion von Fukushima. Immerhin hat man hier von Anfang den Dampf nicht als „Rauch“ gesehen, wie das jetzt wieder laufend geschieht.
Aufregend ist das schon, aufklärend kaum. Auch das Fernsehen wird eben atemlos, wenn es keine Bilder hat. Neustes Beispiel: Der Libyen-Einsatz, wo man einfach am Anfang nichts Richtiges hatte ausser Starts von Flugzeugträgern aus, Archivmaterial, aber kein Blut und wenig Rauch.
Man wird ja irgendwann wieder einmal zur Tagesordnung übergehen und dann auch vieles von dem gern vergessen haben, was jetzt geschrieben und gesagt wurde. Zum Beispiel wieder vom Klima reden. Aber vielleicht ist das jetzt wg Atom nicht mehr gefährdet?
Stimmt, bei Radio DRS hat die Wissenschaft mit der Zeit aufgeholt. Sie hatten auch ein gutes Echo der Zeit zu Japan (15.3.2011). Es dauert halt immer, bis die Wissenschaftsjournalisten kommen. Früher wäre besser, auch wenn er noch nicht ganz auf 100 ist.
Ich finde auch, dass die Wissenschaftsjournis derjenigen Medien, die sich noch eine richtige Wiss-Red leisten, einen guten Job gemacht haben. Vor allem haben sie es geschafft, Hintergrund zu liefern und anstelle von Polit-Korrespondenten das Geschehen aktuell zu kommentieren. Sicher: Die hyperaktiven und auf dauernde News ausgerichteten elektronischen Medien kommen mit dieser Katastrophe an eine deutliche Grenze: Wie soll man während Tagen das Top-Ereignis behandeln, über das man nichts Genaues nicht weiss? Einfach nichts berichten geht nicht, aber das eine oder andere Mal hätte man schon sagen können, wie unklar die ganze Lage ist. Was ich schlimmer finde, ist die Rolle der echten Experten. Wenn ich an gewisse Aussagen von ETH-Professoren über die Wahrscheinlichkeiten von Kernrisiken denke, die sie vor dem Japan-Desaster von sich gegeben haben. Oder an Seismologen, die Erdbebenrisiken plötzlich um Grössenordnungen heraufstufen. Ganz zu schweigen von ENSI-Direktoren, die über Restrisiken stottern. Dann schwindet mein Restvertrauen in die Technik. Eines ist für mich nach Fukushima klar: Atomkraftwerke gehören nicht in seismisch aktive Zonen, Fessenheim lässt grüssen.
Die Investition in eine Wissenschaftsredaktion lohnt sich, das sollten sich Chefredaktoren und Verleger hinter die Ohren schreiben. Die Kolleginnen und Kollegen bei TA, NZZ, St. Galler Tagblatt, SoZ, NZZaS, Le Temps, SR DRS etc. haben mit ihren aktuellen Hintergrundberichten echten medialen Mehrwert geschaffen – unaufgeregt, fundiert, möglichst breit abgestützt. Kompliment. Diese Bilanz macht selbstbewusst und sollte eigentlich bei den nächsten Verhandlungen um Redaktorenstellen und Honorare für Freie ausgespielt werden (Medienschaffende aus Sport, Kultur und Lifestyle dürfen durchaus etwas zurückstehen!), denn: Die Risiken in unserer globalisierten Welt werden weiter steigen (Naturkatastrophen, Folgen des Klimawandels, Kernkraft, Gentech, Nanomaterialien u.a.), das Restvertrauen (welch treffendes Wort!) ins Restrisiko wird vermutlich weiter schrumpfen.