Geschlossene Grenzen, Selbstbestimmung und Besinnung auf Schweizer Werte fordern die einen, offene Grenzen, globale Verflechtung und Durchlässigkeit wollen andere – das Thema Staatsgrenzen ist wiederholt ein zentrales Politikum im Schweizer Wahlkampf und spaltet die Parteienlandschaft. Am Café Scientifique vom 20. März diskutierten ein Jurist, ein Ökonom und ein Politikwissenschaftler die verschiedenen Sichtweisen zu Funktion, Bedeutung und Zukunft von Landesgrenzen.
Braucht es Staatsgrenzen oder braucht es sie nicht? Vor- und Nachteile lassen sich gleichermassen aufzeigen, wie die Diskussion der drei Experten deutlich machte. „Grenzen sind konstitutiv für den Staat, dieser definiert sich anhand seines territorialen Gebietes“, beschrieb Markus Schefer, Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht, die historische Bedeutung von Staatsgrenzen. Das Bild eines souveränen Staates, wie es einst der französische Staatstheoretiker Jean Bodin beschrieben hatte, sei jedoch nicht mehr aktuell. Galt vormals die absolute Selbstbestimmung als massgebendes Kriterium, um einem Staat ‚Souveränität‘ zuzusprechen, so sind heute weitgehende internationale Verflechtungen und Kooperationen gang und gäbe, ohne dass darob die staatliche Souveränität infrage gestellt würde. Nichtsdestotrotz ist die Welt territorial nach Staaten unterteilt. Eine Unterteilung mit juristischen Konsequenzen, wie Schefer aufzeigte, denn Staatsgrenzen würden wichtige rechtliche Funktionen erfüllen, etwa bei Rechtsanwendung oder Rechtsprechung. Ein Prinzip, welches jedoch an seine Grenzen stosse, so Schefer weiter. „Nehmen wir als Beispiel das Atomkraftwerk Fessenheim. Das Kraftwerk betrifft uns alle, und doch können wir nicht mitreden, weil dazwischen eine Grenze liegt.“ Schefer plädierte deshalb für eine Neuformulierung der föderalistischen Idee. Anstatt rechtliche Einheiten strikt entlang territorialer Gebiete zu bestimmen, müsse man auch davon unabhängige Zugehörigkeiten festigen. Staaten würden heute zunehmend als kulturell heterogene Einheiten existieren, die zunehmende Mobilität und die Globalisierung hätten die Homogenität durcheinandergebracht. „Die Frage ist nun, wie wir damit umgehen“, meinte der Rechtswissenschaftler und schlug als möglichen Lösungsansatz die Schaffung neuer politischer Strukturen innerhalb des Staates vor. „Wäre es nicht eine Aktualisierung des föderalistischen Gedankens, wenn man kulturellen Gruppen, die sich durch gemeinsames Gedankengut und nicht durch ein gemeinsames Territorium definieren, repräsentative Möglichkeiten zuschreiben würde?“, stellte Schefer abschliessend die Frage in den Raum. Ein Vorschlag, welchen Politikwissenschaftler Laurent Goetschel nur teilweise unterstütze. Zwar nehme die Deckungsgleichheit zwischen kulturellen und staatlichen Grenzen immer mehr ab, die Bedeutung der Grenzen in Bezug auf die Souveränität bleibe aber erhalten. Grenzen seien der wichtigste und einzige Anhaltspunkt, um das internationale System und das Zusammenwirken der politischen Welt zu verstehen.
„Sind Staatsgrenzen also ein notwendiges Übel?“, nahm Wirtschaftsprofessor Rolf Weder die im Raum stehende Frage auf. Sein Fazit: Notwendig ja, Übel nein. Seine Schlussfolgerung legte er in zwei Argumentationsschritten dar. Zuerst veranschaulichte Weder anhand des sogenannten Ricardo-Modells die Notwendigkeit, Grenzen durchlässig zu gestalten. Bereits 1817 habe der Handelstheoretiker David Ricardo aufgezeigt, dass es für Länder sinnvoller sei, sich bei der Warenproduktion auf wenige Güter zu spezialisieren. „Beispielsweise produziert ein Land Tücher, ein anderes Wein“, erläuterte Weder. Wenn man sodann die Grenzen für den Güterhandel öffne, stünden beide Länder besser da. Die Spezialisierung führe dazu, dass ein bestimmtes Konsumniveau mit geringerer Ressourcenverschwendung erreicht werden könne. Dieses Prinzip gelte auch heute noch in der Handelstheorie. „Man muss also die Grenzen für Güter, Dienstleistungen, Kapital und gar Arbeitskräfte öffnen“, plädierte Weder. Warum aber braucht es dann überhaupt noch Grenzen? Wäre es ökonomisch gesehen nicht am effizientesten, diese abzuschaffen? An dieser Stelle brachte der Ökonom den zweiten Baustein seiner Argumentation ins Spiel. Zwar müsse man Grenzen öffnen, aufheben dürfe man sie jedoch nicht. „Stellen Sie sich vor, wir schaffen die Grenzen zwischen den Kantonen in der Schweiz ab. Dann bestehen bei den Steuersätzen keinerlei Unterschiede mehr.“ Eine fatale Konsequenz, so Weder, denn es brauche den Wettbewerb. „Systeme, eben zum Beispiel Kantone, müssen bezüglich der Güte der Wirtschaftspolitik in Konkurrenz stehen. So entstehen unterschiedliche Wohn- und Arbeitssituationen, aus welchen der Bürger gemäss seinen Präferenzen aussuchen kann“, erklärte Weder.
Eine Aussage, womit der Ökonom den Bogen zurück zum Beginn der Veranstaltung spannte und wiederum die grundsätzliche Frage aufbrachte: Braucht es Staatsgrenzen und sind diese überhaupt noch zeitgemäss? Hatte Rechtswissenschaftler Schefer in seinem Vortrag dafür plädiert, nichtterritoriale Zugehörigkeiten in den politischen Diskurs einzubinden, so sprach sich Weder für den Erhalt der historisch gewachsenen Grenzen aus. Auch hier zähle das Argument des Wettbewerbs: „Staaten sind endogen. Die Leute können selber selektionieren und sich den Staat aussuchen, der ihnen am meisten entspricht“, verdeutlichte Weder seine Position.
Es ist diese Ambivalenz staatlicher Grenzen, welche immer wieder auch die politische Diskussion in der Schweiz prägt: mal steht die Notwenigkeit zur Öffnung im Fokus, dann wieder der Bedarf nach Abgrenzung. Zwischen diesen kontroversen Positionen vermochte auch die Debatte der drei Wissenschaftler keine Entscheidung herbeizuführen. Indes ermöglichte das Café Scientifique, bekannte Argumentationsmuster – die (klassisch populistische) Gegenüberstellung eines schützenswerten ‚Innen’ und eines bedrohlichen ‚Aussen’ – um zahlreiche differenzierte Argumente und Denkansätze zu bereichern.
Weders Aussage „Die Leute können selber selektionieren und sich den Staat aussuchen, der ihnen am meisten entspricht“ entspricht nicht der Realität. Nicht einmal mit der europäischen Personenfreizügigkeit ist diese Vision wirklich erreicht.
Hier am Rande des Themas noch eine provokative These des Briten Philippe Legrain, der für ein vollständige Personenfreizügigkeit für alle einsteht.
http://www.philippelegrain.com/open-borders-work-part-1/