Nicht erst seit dem hirnbetonten Auftritt des EPFL-Präsidenten Patrick Aebischer am Tages-Anzeiger-Meeting, unter anderem mit einer Interview-Breitseite grandios vorbereit, haben wir uns für das Mega-Projekt „Blue Brain“ von Henry Markram an der EPFL interessiert. Längst vorher haben wir zum Beispiel Markrams Auftritt bei den TED Talks von 2009 bewundert, allein schon des Titels wegen:
„Henry Markram builds a brain in a supercomputer“
Der Film beginnt mit „Our mission is…“. Grosse Vorhaben wollen auch gross angekündigt werden.
Schon die Gründung des Instituts „Brain&Mind“ an der Lausanner EPF hat manche mit grünem Neid erfüllt und schon damals fragte man sich, was machen die denn anders. Wo andere den Fortschritt darin sahen, dass aus Anstalten Institute werden, flog man in Lausanne schon weit über dem Horizont. Das wie eine Hirnwindung geschwungene, von Mäzenen mitgebaute Rolex-Center, belegt das. Das macht neidisch.
Mit viel Hirn holte sich der vielgelobte EPFL-Präsident Patrick Aebischer auch die Gäste am TA-Meeting ab, so weit man hören und darüber lesen kann: Auf TA online steht, dass der EPFL-Präsident auf dem Höhepunkt seines nicht in der fünften Landessprache Englisch, sondern französisch gehaltenen Vortrags den 300 geladenen Gästen Spezialbrillen aufsetzen liess und sie per 3D durch das Geflecht der Neuronen des menschlichen Gehirns fahren liess. So viel Hirn war schon lange nicht mehr, nicht einmal im Schiffbau.
Selbst alterfahrene (und darum immer fälschlicherweise der Abgebrühtheit verdächtigte) führende Medienvertreter waren schwer beeindruckt, Peter Rothenbühler war, so wird berichtet, sogar zu Tränen gerührt. Auch von anderen mit Vornamen von Evangelistenhaben wir begeisterte Kommentare gelesen. Die unvergleichliche Riccarda von Mecklenburg, Verlagsfachfrau und kluge Beobachterin schönen Lebens, sah in Aebischers Augen gar „Strahlen und Blitzen“ (in 3D oder nur 2D?) , schreibt der TA-Berichterstatter Ruedi Baumann, selbst ein wenig ergriffen, aber immer unerbittlich neutral. Kurzum, es war unbestreitbar eine Meisterleistung von Öffentlichkeitsarbeit, wo zuerst und vor allem der erzielte Effekt und nachhaltende Eindruck zählt. Fakten manchmal auch.
Eine 3D-Vorführung wird ja von reiferen Menschen, ohne Compi und iPhone aufgewachsen und dennoch was geworden, noch immer als äusserst fortschrittlich wahrgenommen und man ist in diesen mir altersmässig näher stehenden Kreisen wohl versucht, das Ganze wegen der dritten Dimension auch für ein bisschen realer zu halten als es ist. Die heranwachsende Generation der 20-Minuten- und später nur noch Richtige-Zeitungen-Lesenden wird sich da nicht mehr so leicht beeindrucken lassen.
Aber kehren wir ins Blaue Hirn zurück, dem Starprojekt des BMI der EPFL und laut TA angeblich daran, europäische Flügel (sprich Millionen) zu bekommen. Darüber was zu schreiben, war immer schon auf dem Programm. Es galt nur zu warten, bis etwas publiziert wird oder das Projekt selbst was von sich hören lässt und damit ein Aufhänger gegeben ist. Darum hab auch ich immer wieder mal die Website besucht.
Da aber herrscht seit Monaten eigenartige Stille. Der letzte Eintrag unter den News stammt vom April 2010. Er verweist auf eine (bereits im Februar 2009) gefilmte Zwischenbilanz, in der aber weniger Resultate als Versprechungen betreffend Alzheimer etc. gemacht werden. Ist ja vielleicht auch nur für Laien gedacht, denkt man sich, selbst einer.
Aber auch die Publikationsliste ist merkwürdig kurz und endet 2009 mit:
King, J. et al., A Component-Based Extension Framework for Large-Scale Parallel Simulations in NEURON, Frontiers in Neuroinformatics, available online, doi:10.3389/neuro.11.010.2009
Das hat uns schon ein bisschen gewundert, dass die Website (anglais seulement) des angeblich zukunftsträchtigsten Projekts so seltsam unbelebt ist. Vielleicht ist wo anders der Teufel los und wir haben es wieder mal nicht bemerkt?
Doch andere, die alles viel besser wissen, sehen da auch nichts, wo was sein sollte: Am 2. Februar lesen wir im Tages-Anzeiger den Einwurf der drei UniZh/ETH-Neuroinformatiker
Richard Hahnloser, Kevan Martin und Rodney Douglas. In einem Leserbrief beklagen auch sie die Leere und schreiben zu Blue Brain:
„…In Anbetracht der potenziellen Wichtigkeit und der grossen Bundesbeiträge für das Blue-Brain-Projekt finden wir es erstaunlich, dass diese Simulation einer Hirnsäule bisher in keinem begutachteten wissenschaftlichen Journal publiziert wurde.“
Ein wissenschaftliches Resultat ohne peer-reviewte Veröffentlichung sei aber
„…wie ein Auto ohne Räder…“.
Den Anspruch, das menschliche Hirn reproduzieren zu können, halten die drei – alle Professoren an der Uni Zürich und der ETH Zürich – für „unrealistisch.“ Die drei ärgern sich auch über die Prognose Markrams, man könne bald Krankheiten wie Alzheimer besser behandeln: Es sei
„eine Anmassung, man könne damit Nervenkrankheiten heilen.“
Auch mit Henry Markrams Zeitangaben, wie schnell man am Ziel sein werde, hadern die drei Kritiker:
„Extravagante Behauptungen darüber, wie schnell und mit welchen Methoden dieses Ziel erreicht wird, setzen das Vertrauen der Öffentlichkeit aufs Spiel, welches dieses wichtige Unterfangen unterstützt.“
Das ist eigentlich dicke Post (wo Rauch ist, hat es manchmal auch Feuer) und man kann die Kritik aus dem Zürcher Schwesterhaus der EPFL wohl nicht nur als Neidhammelei abtun.
Das lässt sich sicher alles erklären. Ohne Spezialbrille und in 2D.
Gehört doch diskutiert, oder?

Tja, sobald’s ums Hirn geht, brennen die Neuronen durch.
Sehr zutreffende Kommentar, da kommt noch mehr auf uns zu!
Und hat Markram oder ein anderer EPFLer im Tagi darauf reagiert?
Aus „familiären“ Gründen muss ich mir einen Kommentar verkneifen, doch ein Vergleich aus der oben zitierten Zürcher Replik auf Aebischers „Blaues Menschenhirn“ ist offenkundig: „(…) Fakt ist, dass das weltweit ambitionierteste Grossprojekt, welches auf das Gesamtverständnis eines Gehirns abzielt, sich gegenwärtig mit der Fruchtfliege befasst, deren Hirn viele Millionen Mal kleiner ist als ein menschliches Gehirn. Die Behauptung der Forscher, man könne das menschliche Gehirn innerhalb der nächsten 10 Jahre nachbauen, ist somit schlichtweg unrealistisch (…).“
Zutreffende Gedanken. Den Eindruck hatte ich in ähnlicher Form nach dem Lesen des Tagiartikels. Schade um die Zeit.
Das gehört aber nun doch mal gesagt:
Mittlerweile sollte es sich herumgesprochen haben, dass das Gehirn komplex & vor allem ncicht allein die Steuerzentrale ist. Das „Bauchhirn“ verdient genauso Aufmerksamkeit und dazwischen vermittelnd sind nicht nur die Nerven, sondern auch das eher noch stiefmütterlich behandelte Bindegewebe, das man sich bei der Bowen Behandlung zunutze macht, die zu tiefer Entspannung führt und dem Körper (und der Seele) die Möglichkeit gibt, sich neu zu organisieren (und so in erstaunlicher Art zu genesen).
Aber vielleicht braucht es neue Denkmodelle bei den hohen Tieren im Entscheidungszirkus? Hier daher der Link zu einer für mich neuen Science Seite, die über Schafe redet… http://diepresse.com/home/science/index.do
zum nachblöken…
Heute liest man eine Übersicht über das Human Brain Project oder Blaue Gehirn in der NZZ von unserem Kollegen Florian Fisch: http://www.nzz.ch/nachrichten/hintergrund/wissenschaft/der_griff_nach_dem_bewusstsein_1.10537455.html
Kontext von Christian Heuss zur Frage der Finanzierung:
http://pod.drs.ch/mp3/kontext/kontext_201105181002_10179198.mp3
Radio hören lohnt sich halt einfach :-). So viele Stimmen, so viele Aspekte in einem Beitrag – chapeau.
Auch die Kollegen in Deutschland widmen sich Markrams hochtrabenden Plänen. Der ausführliche Bericht in der Zeit ist überraschend positiv.
Auch Spiegel online hat berichtet:
http://www.spiegel.de/international/europe/0,1518,762359,00.html
mit phantasiereicher Bildergalerie.
Und Florian Fisch in der LabTimes:
http://www.labtimes.org/labtimes/issues/lt2011/lt03/lt_2011_03_16_19.pdf
samt Editorial:
http://www.lab-times.org/editorial/e_211.html
Es geht was.
Hier noch der Bericht in der Zeit, den Stefan erwähnt hat:
http://www.zeit.de/2011/21/Kuenstliches-Gehirn
Ich hatte einige gute Diskussionen über das Projekt und möchte nochmals präzisieren: Ich finde es grundsätzlich wichtig, auch fantastische wissenschaftliche Projekte zu finanzieren. Diese sollten aber entweder in einer breiten wissenschaftlichen Gemeinschaft abgestützt sein oder aber mit bescheideneren Budgets durchgeführt werden. Die Europäische Komission macht – ohne es zu beabsichtigen – durch ihre finanziellen Versprechen aus Forschungsgruppen PR-Büros.