Verwundert reibe ich mir beim Sonntagsbrunch die Augen. Auslöser ist eine blaue Broschüre namens SPEZIAL, die der NZZ am Sonntag sowie der SonntagsZeitung beiliegt. Auf dem Cover tanzt ein gefälliges Paar, wohl Sinnbild für das umfassend abgehandelte Thema des Printprodukts: „Beweglichkeit erhalten – wiederherstellen“. Am Schluss noch kurz der Blick aufs Impressum, und ich stocke und staune: Projektleiter und Produzent ist Dr. h.c. Beat Glogger, seine Firma scitec-media gmbh wurde mit der Redaktion und dem Verfassen vieler Beiträge betraut. Im Einsatz war also quasi das gleiche Redaktionsteam, das auch die wöchentlichen zwei Seiten WISSEN in 20 Minuten verantwortet, der Zeitung mit der notabene grössten Reichweite im Lande (ca. 1,3 Millionen Leser/innen).
Das blaue Sonderheft (Auflage 531‘000 Exemplare) stammt aus der Küche von Gesundheit Sprechstunde (Ringier) und wurde unterstützt von Merian Iselin, Klinik für Orthopädie und Chirurgie in Basel, und der Schulthess Klinik in Zürich. Der Titel des Editorials heisst denn auch programmatisch „Mehr Orthopädie braucht das Land“. Kein Zweifel, die Beiträge über Arthrose, Knorpelschäden, Sportverletzungen, Gelenkprothesen und Schlüsselloch-Chirurgie sind fachlich und journalistisch kompetent, attraktiv aufgemacht, aber eben von Stellen mit einschlägigen kommerziellen Interessen gesponsert. Auch die aktuelle Präsidentin des Schweizer Klubs für Wissenschaftsjournalismus, Irène Dietschi, tritt als Autorin auf – und wie gesagt das WISSEN-Team von 20 Minuten (wiederum gesponsert von der Mercator-Stiftung).
Mir geht es keineswegs um Moral oder Missgunst, ich mag jedem Unternehmen solch lukrative Mandate gönnen. Aber die Frage sei erlaubt: Wohin steuert der Wissenschaftsjournalismus, wenn die Wissensseite der meist gelesenen Tageszeitung von den gleichen Leuten verfasst wird, die ein von namhaften Kliniken bezahltes Magazin produzieren? Dies ist kein Einzelfall. Müssen wir nicht vom veralteten Ideal eines „unabhängigen“ Wissenschaftsjournalismus endlich Abschied nehmen und einen zeitgemässen Kodex formulieren? Der neue Kodex sollte zumindest für mehr Transparenz beim (oft Existenz sichernden) Spagat zwischen Journalismus und PR sorgen. Die Glaubwürdigkeit des Berufsstandes würde gefördert, das Publikum wäre sicher dankbar.
„Beweglichkeit erhalten“ ist eigentlich gar nicht schlecht als Beschreibung des Phänomens: Ich vermute, eine grosse Zahl von Wissenschaftsjournalist(inn)en kann nur einigermassen überleben, wenn sie auch mal etwas für eine Auftraggeberin schreiben, die selbst vorschreibt und nur gehobene Gebrauchsprosa bei angeblichen oder richtigen „Profis“ einkauft. Ob das auch Beat Glogger so halten muss, weiss ich nicht.
Ich, als bereits etwas anfossilisiertes Exemplar des Metiers, auf einem anständigen Pensionskissen und Reserven ruhend, kann mir Unabhängigkeit leisten. Und doch würde meine Liste nicht leer bleiben, gäbe es die Pflicht, Geldquellen aus früheren Leben aufzuzählen, wie das in anständigen Medizin-Journals verlangt wird. Dass jemand dann lebenslang seine Seele für etwa ein Vortrags-Honorar oder eine Aufztragsschreibe verkauft hat, halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Aber allfällige Antipathien (gelegentlich als „kritische Haltung“ verkauft), schmelzen wohl schon ein bisschen.
Heute gilt wohl: Wer ganz rein bleiben will, verhungert oder muss schon mit ausreichenden Lebensmitteln geboren sein. Erst wenn es wieder genug einigermassen anständig bezahlte Stellen für Wissenschaftsjournalist(inne)en gibt, kann man verlangen, dass die kritische Sicht von keinem Nebenverdienst getrübt werden kann. Ganz früher, in uralten Zeiten, hat es ja schon als Verrat am hehren Journalismus gegolten, wenn jemand auf die PR-Seite gewechselt ist. Heute ist das eine übliche Fluchttreppe an sinkenden Presseschiffen.
So oder so. Auch wenn es im Heftli steht und mir alle Schlüssellöcher vergoldet werden. So einfach lasse ich mir ein neues Gelenk und ähnliches nicht aufschwatzen, Nicht einmal vom mir schon aus topographischen Gründen nicht unsympathischen Merian Iselin-Spital.
Es ist halt eine Tatsache, dass Wissenschaftsjournalisten in der Schweiz nicht überleben, wenn sie nur für „unabhängige Medien“ schreiben. Da Stiftungen kein kommerzielles Interesse haben, ist es vielleicht möglich mit ihrer Unterstützung unabhängige Plattformen zu schaffen. Das 20 Minuten-Projekt soll ja Wissenschaft einem jungen Publikum präsentieren und wie in einer Gratiszeitung üblich geht es nicht um Hintergrundinformationen oder kritischen Journalismus. Aber ich finde natürlich auch, dass es unabhängige Plattformen braucht und die fehlen derzeit.
man kann da eigentlich nur auf einen reifungsprozess hoffen, auf allen seiten. der wissenschaftsjournalismus (als journalismus eben, nicht einfach als wissensvermittlung) ist wohl einfach noch zu jung, um richtig ein profil bekommen zu haben. ich gehe davon aus, dass da in nächster zeit einiges passieren wird, eben in richtung echte unabhängigkeit – schlicht und einfach, weil das sehr wesentlich ist für das funktionieren von wissenschaft (auch als zunehmend wichtigem gesellschaftspolitischem akteur, notabene). not tut ein neues selbstverständnis: wissenschaftsjournalismus ist keine dienstleistung für die wissenschaft. es braucht hier eine lebendige partnerschaft, keine kumpanei.
@Gianni Casutt
Braucht das junge Publikum denn keinen kritischen Journalismus?