Was uns vom Impfen abhält.
Vor kurzem geriet ich bei einer Diskussion mit Freunden über das Impfen in Bedrängnis. Mein Plädoyer für die Impfung als beste Medizin löste mitleidiges Lächeln aus. Wie kommt es, frage ich mich, dass vernünftige, gut gebildete Menschen Impfungen mistrauen?
Dabei ist die Lage aus Expertensicht glasklar (InfoVac, BAG, RKI, WHO). Impfungen wirken, sind vergleichsweise harmlos und kosten wenig. Zudem schützen Impfungen solidarisch, indirekt auch die Ungeimpften vor einem Erreger – eine positive Nebenwirkung!
Hier mein Versuch, mögliche Gründe der Impfablehnung aufzulisten:
Opfer des Erfolgs
Nach einer weltweiten Impfaktion der WHO sind die Pocken seit 1980 offiziell ausgerottet. Ein Erfolg, an den sich junge Eltern nicht erinnern können. Auch die Kinderlähmung wurde zumindest in der Schweiz bis 1982 ausgerottet. Zum Glück, denn es gibt keine Behandlungsmöglichkeit, ausser der präventiven Impfung. Die lebensgefährlichen Komplikationen von Masern & Co. sind uns nicht mehr aus dem täglichen Leben bekannt. Masern treten in Europa vor allem an Waldorfschulen auf. Warum also mögliche negative Nebenwirkungen in Kauf nehmen?
Statistische Grössen
Wir gewichten die möglichen Konsequenzen der Handlung mehr als die Konsequenzen der Unterlassung (sprich: die mögliche allergische Reaktion mehr als die mögliche Erkrankung). Wenn etwas schief geht, wollen wir Schuldige. Es ist einfacher der Impfung die Schuld der Nebenwirkung zu geben als der Nichtimpfung die Schuld für die Krankheit. Nichtimpfung ist ja nicht einmal ein richtiges Wort. Durch Impfung gerettete Leben sind abstrakt, während durch Nebenwirkung geplagte uns in die Augen schauen. (Dazu ein Interview mit dem Psychologen Michael Sigrist.)
Abstinente Experten
Dass gerade vermeintliche Impfexperten, die Pflegefachpersonen, die tiefsten Impfraten haben, lässt uns noch impfskeptischer werden. Aber warum gerade die? Vielleicht treten sie in die statistische Falle. Das Pflegefachpersonal sieht täglich Patienten, die trotz Impfung Krank wurden – es gibt keinen 100prozentigen Schutz. Je höher jedoch die Impfrate, desto höher steigt der Anteil an Geimpften unter den Erkrankten. Das nimmt man unmittelbar wahr. Dass dabei die absolute Zahl der Erkrankten gesunken ist, muss über längere Zeit ermittelt werden.
Alternative Sicht
Viele Alternativmediziner raten von Impfungen ab. Benutzer von alternativmedizinischen Angeboten lassen ihre Kinder weniger impfen als der Durchschnitt – meistens wider den Ratschlag ihres Hausarztes. Ein Klassiker: Die gute Natur in Form des Homöopathen gegen die böse Chemie in Form des Hausarztes. Unzählige Websites warnen vor der „Impflüge“. Zum Beispiel der Verein AEGIS, der Impfungen eines Menschen zum Schutz gegen Krankheiten mit Hammerschlägen auf ein Auto zum Schutz gegen Hagel vergleicht. AEGIS empfiehlt auch Homöopathie anstatt Impfung gegen Masern.
Pandemiemüdigkeit
Das beste Mittel, sich gegen Pandemien zu schützen, ist die Impfung – falls vorhanden. SARS, die Vogelgrippe und als letztes die Schweinegrippe rafften aber nicht die Millionen dahin und hatten nicht das Ausmass der berüchtigten spanischen Grippe, vor der die mediale Panikmache warnte. Ob die Gegenmassnahmen und Impfkampagnen nützten oder ob die Viren sich sowieso nicht ausgebreitet hätten, ist schwer zu beurteilen. Der Eindruck bleibt: Es wurde „Wolf“ geschrieen, der kam aber nie.
Die gewöhnliche Grippe
Und dann ist da noch diese jeden Herbst anlaufende Grippeimpfung (nicht Tamiflu!). Für die meisten Menschen ist die saisonale Grippe höchstens eine lästige Unterbrechung des Alltags, aber sicher keine Lebensgefahr. Da sind halt noch die Alten und Kranken, die sich nicht impfen lassen können oder bei denen die Impfung nichts nützt. Der grippeimpfkritische Immunologe Tom Jefferson, studierte reihenweise Studien und kam zu verschieden Schlüssen: es gebe in gewissen Fällen eine Schutzwirkung und in anderen lägen nicht genügend Daten vor. Andererseits stimme die schwach nachgewiesene Wirksamkeit nicht mit dem wirtschaftlichen Aufwand überein. Man sollte nicht vor allem die Schwachen sondern die Kräftigen impfen. Zum Beispiel gerade das Pflegefachpersonal. Aber eben, die sind, wie schon gesagt, keine Vorbilder.
Verwirrende Berichte
In der Fachzeitschrift The Lancet berichtet ein britischer Arzt über einen möglichen Zusammenhang zwischen der Masern-Mumps-Röteln Impfung und Autismus. Die Berichterstattung verselbstständigt sich, fokussiert nur auf die Gefahr und blendet die überwiegende wissenschaftliche Literatur aus, die keinen Zusammenhang findet. Das Resultat: Die Impfrate sinkt und die Ansteckungsrate steigt.
Vertrauensfrage
Es ist für Einzelne unmöglich die Faktenlage zu überblicken und zu verstehen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu vertrauen. Aber wem? Dem namenlosen Beamten vom BAG, dem unverständlichen Wissenschaftler von der Uni, dem autoritären Hausarzt vom Nachbardorf oder doch dem charismatischen Antroposophen aus dem Quartier? Eigentlich müsste da der kritische Wissenschaftsjournalist der Tageszeitung die Realität korrekt darstellen. Doch der muss aus ökonomischen Gründen in erster Linie die Leser unterhalten. Und wenn sein Artikel nicht unseren Überzeugungen entspricht, glauben wir ihm sowieso nicht.
Na dann, Gesundheit!
Die Thematik eignet sich auch wunderbar für David-gegen-Goliath-Geschichten: der Impfgegner/das Impfopfer gegen Pharmakonzerne / Behörden / Wissenschaft. Eine Storyline, derer sich Journalisten immer wieder bedienen und so Minderheiten-Meinungen verstärken (teils in der irrigen Annahme, ausgewogen zu berichten). Auf eine Quellenprüfung wird da meist verzichtet: Bei der Blauzungenimpfung wurden Impfgegner meist als „einfache Bauern“ dargestellt, die sich gegen staatlichen Zwang wehren, obwohl viele davon eigentliche Antiimpf-Aktivisten waren.
Liebe Kollegen, macht es euch nicht so einfach, die Impfskepsis darauf zurückzuführen, dass die Journalisten so gerne über abwecihende Meinungen schreiben oder dass die »David-gegen-Goliath-Storyline« so attraktiv sei. Meine Erfahrung ist eine andere. Wenn ich mir z.B. die Berichterstattung über die Masernepidemie anschaue, die nun vorbei ist: Da haben fast alle Zeitungen die identische Formulierung «Epidemie grassiert« verwendet. Das Wort »Grassieren« wird, wenn es im SMD suche, außer im Zusammenhang mit Masern nur in zwei Kontexten verwendet: erstens ironisch (»Panini-Sammelfieber grassiert«) oder wenn etwas wirklich schlimm ist (Choleraemidemie in Simbabwe u.ä.). Weshalb nun »grassierte« die Masernepidemie, die keine Tote gefordert hat? Erstmals tauchte die Begriffskombination in einer Pressemitteilung des BAG auf. Die Journalisten haben ein zu eins übernommen (vor dieser Mitteilung hat mniemand von »Grassieren« geschrieben)!
Mir scheint viel mehr, die Journalisten seien auf einen Propagandatrick des BAG hereingefallen, der so aussieht (und natürlich der Dramaturgie in den Medien entgegen kommt), dass es angebliuch nur zwei Positionen gibt: Pro oder Kontra. Tatsächlich aber gibt es zwischen dem Pol der Maximalisten und dem der totalen Impfgegner (die wir alle doof finden, da sind wir uns einig) das ganze Spektrum von mehr oder weniger Impfkritisch. Beispielsweise wird eines der Aushängeschilder einer kritischen Betrachter, Hansueli Albonico, in den Medien meist als »Impfgegner« bezeichnet (EKIF-Präsidentin Claire-Anne Siegerist nannte ihn in der SÄZ gar bewusst diffamierend »naturopathe«). Man mag Albonicos Ansichten teilen oder nicht, aber er hat selber in Afrika Masern-Impfprograme geleitet; ein »Impfgegner« ist er nicht – aber ein Gegner der BAG-Impfstrategie, was etwas anderes ist.
Noch ein Beispiel: Der »Tagi« hat am 27. Februar 2008 geschrieben, es gebe eine klare Korrelation zwischen Impfrate und Masernfällen. Daneben stand eine Grafik, die das belegen sollte. Aber wenn man sich die anschaute, so stellte man lediglich fest: keine Korrelation! Es gibt Kantone (UR, OW, SZ, AI) mit lausiger Durchimpfung und wenigen Fällen!
Lieber Marcel, danke für deine Präzisierung: Impfungen können Nebenwirkungen haben und sie kosten – man soll den Sinn einer Impfung also durchaus hinterfragen. Mein Kommentar bezog sich in erster Linie auf die Berichterstattung zur Blauzungenimpfung: das David-Goliath-Schema wurde da sehr stark bedient, aber die Medien haben wenig zur Meinungsbildung beigetragen (das liess sich daran erkennen, dass die Impfskepsis regional sehr stark schwankte). Was du in deinem Kommentar aber nicht erwähnst: Albonico ist Präsident der Union der schweiz. komplementärmed Ärzteorg. Er hat also ein machtpolitisches und indirekt wirtschaftliches Interesse an einer Impfkritik. Während du dem BAG also einen Propagandatrick vorwirfst, lässt du den Interessenkonflikt von Albonico unter den Tisch fallen – auch dies nicht ganz untypisch für die Berichterstattung über Impfungen.
Fortsetzung:
http://www.nzz.ch/nachrichten/panorama/masern_wieder_auf_dem_vormarsch_1.10340684.html
Eine gute Zusammenfassung der verhaltensweisen von Impfgegenern: http://scienceblogs.com/insolence/2012/01/tactics_and_tropes_of_the_antivaccine_mo.php
Es lässt sich auf viele andere anti-wissenschaftliche Kampagnen übertragen.