Moderator Martin Hicklin begrüsste das Publikum des Café Scientifique am Sonntag, 16. Mai 2010, besonders herzlich. „Ich bedanke mich, dass Sie unser Café dem Fussball vorgezogen haben, und versichere Ihnen, dass Sie es nicht bereuen werden“, meinte er schmunzelnd und verwies damit auf den gleichentags stattfindenden, Meisterschafts-entscheidenden FCB-Match. Um seinem Versprechen nachzukommen, kündete Hicklin sogleich den ersten Referenten an, welcher die Vortragsreihe über Neuroprothesen eröffnete.
Jedoch: Nach den ersten Sätzen des Referats von Prof. Norbert Dillier vom Labor für experimentelle Audiologie des Universitätsspitals Zürich unterbrach ein Zwischenruf aus dem Publikum die Veranstaltung: „Bitte, sprechen Sie lauter und deutlicher!“, rief es aus den Zuhörerreihen. Die im Publikum anwesenden Hör- und Sehbehinderten machten damit auf ihre Bedürfnisse aufmerksam und bestätigten zugleich Dilliers Einstiegsthese: „Wir leben in einer Kommunikationsgesellschaft. Es ist für Betroffene schwierig, wenn die alltäglichen Austauschprozesse gestört oder gar verunmöglicht sind.“ Die Lebensqualität schwerhöriger oder tauber Menschen sei stark beeinflusst, etwa durch soziale Isolation, verschlechterte emotionale Reaktionen oder Mobilitätsprobleme. Neuroprothesen könnten diesen Menschen helfen, so der Experte. Es handle sich dabei um technische Geräte, welche ermöglichen, Sinneseindrücke wieder herzustellen, indem sie direkte Signale auf vorhandene Nerven senden. „So funktionieren auch die Cochlea- Implantate (CI)“ erklärte Dillier und stellte im Folgenden das Prinzip des „bio-elektronischen Ohrs“ genauer vor. Ein CI besteht aus einer inneren Komponente (Implantat) und einer äusseren Komponente (Sprachprozessor). Durch die gezielte Anregung kleiner Gruppen von Hörfasern kann das Gehirn stimuliert werden und so Schall-Signale verarbeiten. Im Sprachprozessor wird der akustische Reiz, beispielsweise ein Geräusch oder Gespräch, verarbeitet zu einem elektrischen Signal. Das Gehirn entschlüsselt diese empfangenen Signale als Höreindruck. „Knapp 47 Prozent der CI-Träger beurteilen den Erfolg als ‚ausserordentlich’ und nur gerade 5 Prozent als ‚bescheiden’“, beschrieb Dillier und machte damit auf die Erfolggeschichte der Implantate aufmerksam.
Dr. Volkmar Hamacher von der Phonak AG bestätigte in seinem anschliessenden Referat die positiven Resultate der Cochlea-Implantate, wies jedoch auch auf Problemfelder und Verbesserungsmöglichkeiten hin. Zusammen mit seinem Forschungsteam beschäftigt sich der studierte Elektrotechniker mit den Zukunftsperspektiven der Implantate. „Wir arbeiten insbesondere an drei Aspekten. CI funktionieren in ruhiger Umgebung sehr gut. Störgeräusche wie etwa Strassenlärm sind jedoch nach wie vor problematisch. Weiter ist die Klangwahrnehmung von Sprache und Musik nicht zufriedenstellend, und drittens sind die externen Sprachprozessoren noch zu gross. Wir wollen versuchen, sie aus Gründen der Kosmetik und des Tragekomforts zu minimalisieren.“ Heute sind die hinter dem Ohr getragenen Prozessoren vier bis fünf Zentimeter gross. Das Ziel sei es, diese auf die Grösse von Hörgeräten verkleinern zu können oder gar das gesamte System zu implantieren – inklusive Mikrofon und aufladbarem Akku. „Dafür braucht es aber noch viel Forschung.“
„Gibt es denn keine abstossenden Reaktionen des Körpers auf diese Implantate?“, fragte eine Zuhörerin erstaunt. Hamacher verneinte. Die Geräte würden aus Titan oder Keramik bestehen, und so gäbe es keine Probleme. „Und muss man mit so einem Implantat neu lernen zu hören oder funktioniert es von Beginn weg wie das natürliche Hören?“, wollte das Publikum weiter wissen. Nach einer Operation würden die Patienten von einem Audioagoge oder einer Audioagogin geschult und unterstützt, antwortete Hamacher. Ein gezieltes Hörtraining sei notwenig, da das Gehirn lernen müsse, die neuen Reize zu verarbeiten. Obwohl Moderator Hicklin sich bemühte, den dritten Referenten anzukündigen, liess es sich das Publikum nicht nehmen, weitere Zwischenfragen zu stellen. Eine aufgebrachte Zuhörerin formulierte erneut die Bitte, man solle lauter und deutlicher sprechen und fügte an, dass sie selbst keine guten Erfahrungen mit den Cochlea Implantaten gemacht habe. Bei ihrer Arbeit als Kommunkationsassistentin für Hörbehinderte habe sie einen CI-Träger kennengelernt, welcher nicht mehr in der Lage sei, spontan zu reagieren, da die Verarbeitungsdauer des Implantats zu lange sei. Sowohl Dillier auch als Hamacher erwiderten, dass die Verarbeitungszeit der CI nicht länger sei als jene traditioneller Hörgeräte. „Jedoch gibt es ‚bad performers’, also Patienten, bei denen das Implantat nicht so funktioniert wie erwartet.“ Nachdem sich die Stimmung wieder beruhigt hatte, vermochte Hicklin schliesslich doch zum letzten Vortrag überzuleiten. Statt um das Ohr, ging es nun um das Auge: Prof. Heinrich Gerding vom Augenzentrum Klinik Pallas in Olten referierte über Chip-Implantate in der Netzhaut. „Ich bin zugleich Befürworter und Kritiker meiner Forschung“, merkte der Mediziner gleich zu Beginn an. „Die Heilung eines Blinden ist ein biblisches Thema. Und bis heute handelt es sich dabei um einen Menschentraum.“ Entsprechend gross sei der Konkurrenzkampf in der Forschung. Bis heute gäbe es keine funktionierende klinische Anwendung. Zwar seinen bereits verschiedene Operationen durchgeführt worden, auch in der Schweiz, jedoch verurteilte Gerding diese aufs Schärfste. Die Konzepte seinen medizinisch noch nicht anwendbar, Chirurgen zu unerfahren und Langzeitstudien fehlten ebenfalls. Den Patienten würden falsche Versprechungen gemacht, denn im besten Fall könne Orientierungshilfe, niemals jedoch wirkliches Sehen im herkömmlichen Sinne ermöglicht werden. „Vieles an der Entwicklung ist bedenklich. Aber wir bleiben trotzdem dran. Denn – es wird etwas!“
Die offenen und ehrlichen Statements von Gerding brachten auf den Punkt, was im Verlaufe der Veranstaltung immer deutlicher wurde: Neuroprothesen sind ein zugleich heikles und vielversprechendes Thema, welches unterschiedlichste Interessensgruppen tangiert und vielerlei verschiedene Meinungen evoziert.