Am Café Scientifique vom 13. Dezember 2009 diskutierten Experten und Publikum über das Thema Krankenpflege.
„Was ist Pflegewissenschaft und wozu braucht es sie überhaupt?“ Sabina De Geest, Professorin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel, konfrontierte das Publikum des Café Scientifique gleich zu Beginn damit, die Legitimation ihres Faches in Frage zu stellen. „Viele Leute denken, dass Pflegewissenschaft etwas Esoterisches ist und betrachten die Disziplin als unwichtig. Die Ansicht, dass Pflege sozusagen am Bett bleiben sollte und nichts an der Universität zu suchen hat, ist häufig anzutreffen.“ Dabei sei gerade die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zentral. Behandlungen im Spital sollten möglichst genau auf die Patienten zugeschnitten sein, um ihnen eine bestmögliche Versorgung zu garantieren. „Man kann die Patienten nicht einfach nur im Bett liegen lassen, sie müssen aktiviert werden. Und hierzu sind komplexe Pflegestrategien notwendig“. Es brauche also, so die Professorin, die Wissenschaft am Bett. Das Schweizer Gesundheitswesen sei generell sehr konservativ. Man tue, was man immer schon getan habe. Aber eigentlich brauche es Innovationen und neue Ansätze. „Insbesondere das Selbstmanagement chronisch kranker Patienten und Patientinnen muss verstärkt gefördert werden. Wenn sich diese Menschen selbst zu Hause versorgen können, so können nicht nur Notfälle verhindert, sondern auch Kosten eingespart werden.“
Wie dies in der Praxis aussehen kann, veranschaulichte Rebecca Spirig, Leiterin der Abteilung Klinische Pflegewissenschaft des Universitätsspitals Basel in ihrem anschliessenden Vortrag. Am Beispiel des „Wundbehandlungsprogramms“ des Universitätsspitals Basel zeigte die Pflegeexpertin auf, wie durch die Einführung von Fachgruppen, Leitlinien, Sprechstunden und Schulungen bessere Resultate bei den Patienten erreicht und zugleich Kosten eingespart werden können. „Solche Massnahmen sind insbesondere angesichts der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft notwendig. Wir brauchen neue Konzepte, um die Versorgung gewährleisten zu können.“ Auch Reto Kressig, Chefarzt für Geriatrie an der Universität und am Universitätsspital Basel, betonte die Wichtigkeit der Pflegewissenschaft und verdeutlichte dies mit Beispielen aus dem Spitalalltag. „Der Arzt ist verantwortlich für das Organische. Eine optimale Versorgung der Patienten umfasst jedoch viel mehr.“ Beispielsweise müsse man berücksichtigen, wie der einzelne Mensch im Alltag funktioniert, wie es ihm emotional geht oder wie seine finanzielle Situation aussieht. „Und da sind die Pflegenden einfach viel näher dran als die Ärzte. Sie kennen die Patienten und wissen um deren Bedürfnisse.“ Und so sind es zum Beispiel die Pflegenden, welche anhand eines Graduierungs-Systems einschätzen, ob ein Patient entlassen werden kann oder weiterhin hospitalisiert bleibt. Beurteilt werden Aspekte wie Treppensteigen, Körperhygiene, Ankleiden oder Essen auf einer Skala von 1 (für völlige Unselbstständigkeit) bis 7 (für völlige Selbstständigkeit). „Diese Instrumente, welche den Patienten zu Gute kommen, sind der Pflegewissenschaft zu verdanken“, so Professor Kressig weiter. Sabine De Geest stimmte ihm zu: „In der Pflegewissenschaft geht es nicht darum, Wissenschaft um der Wissenschaft Willen zu betreiben, sondern es geht darum, neue Erkenntnisse für die Praxis zu erlangen.“ So werde auch zunehmend die Kompetenz und Verantwortung des Pflegepersonals gesteigert, was den Beruf attraktiver mache und dem drohenden Mangel an Pflegepersonal entgegenwirken könne. „Man kann also sagen, dass eine neue Generation an hochgebildeten Pflegenden heranwächst“, fasste Moderator Mark Livingston zusammen. „Stellt dies eine Konkurrenz für die Ärzte dar?“ Chefarzt Reto Kressig verneinte. „Es braucht einen Kulturwandel im Spital. Heutzutage agieren Ärzte und Pflegende auf einer Augenhöhe. Jedoch sehen dies nicht alle Ärzte gerne.“ Deswegen brauche das Pflegepersonal viel Sozialkompetenz und Fingerspitzengefühl, um das Wissen weitergeben und selbst Verantwortung übernehmen zu können. Diese Fähigkeiten und Strategien könnten ebenfalls durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Pflege erreicht und vermittelt werden.
„Das ist ja alles schön und gut“, kam an dieser Stelle eine Anmerkung aus dem Publikum, aber das Wichtigste sei bisher ausgeblendet worden: „Was sei mit der Kooperation der Patienten? Denken Sie doch an all die ’störrischen Alten‘! Gibt es da auch so wunderbare Konzepte?“ Das Expertenteam schmunzelte und nickte einstimmig. Reto Kressig bestätigte, dass in der Praxis rund ein Drittel der Patienten ihre Medikamente nicht einnimmt. Eine gute Pflege könne so natürlich nicht gewährleistet werden. „Die ’störrischen Alten‘ gibt es tatsächlich. Im Spitalgarten finden wir des Öfteren Pillen, welche aus dem Fenster geschmissen wurden.“ Problematisch sei, dass diese Patienten sich zwar nicht behandeln lassen wollen, aber auch nicht selbstständig sein können. Sabine De Geest ergänzte, dass diesem Problem nur durch den Einbezug der Sichtweise des Patienten begegnet werden könne. „Man darf nicht nur einfach Medikamente verschreiben, sondern muss viele Faktoren bedenken und die Therapien anpassen.“
Auch die folgenden meist kritischen Fragen des engagierten und interessierten Publikums beantworteten die Experten überzeugend und umfassend. Und so scheint das zu Beginn doch eher skeptische Publikum am Ende davon überzeugt, wofür alle drei Referenten in den Vorträgen und der Diskussion plädiert hatten: Krankenpflege stellt eine sehr vielfältige und komplexe Aufgabe dar, die eine wissenschaftliche Betrachtung verdient, und die sowohl heute als auch in der Zukunft eines der zentralen Geschäftsfelder des Gesundheitssystems darstellt.