Wo ist er, dieser Graben zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften einerseits und den Naturwissenschaften andererseits? Sind hier Fiktionen und dort Fakten, hier Geist, dort Wissen verortet?
Ich hatte das Glück, beides zu studieren – die Philosophie (nicht abgeschlossen) und die Zellbiologie (abgeschlossen) – und das eine hat mir das Verständnis für das andere erst ermöglicht. Natürlich haben sie völlig andere Methoden und Ziele, dafür sind ihre Forschungsgegenstände, die Forschungsfragen viel zu verschieden. Natürlich hat jede dieser Wissenschaften ihren eigenen Kanon, ihren eigenen Kodex und ihre eigenen Wahrheiten. Insofern lassen sich die Arbeiten von Kant und Watson, Luhmann und Einstein, lassen sich Sozial- und Naturwissenschaften gar nicht miteinander vergleichen. Trotzdem wird dies immer wieder mit Vehemenz getan. Die Geisteswissenschafter lassen oft unverblümt durchblicken, dass die Naturwissenschafter unkritisch ihren Daten huldigen würden und diese Resultate ihrer Forschung für die Wahrheit hielten. Dabei würden sie zu willfährigen Helfern der Mächtigen der Gesellschaft. Die Naturwissenschafter wiederum führen ins Feld, dass die Kollegen von den Geisteswissenschaften unverständliche Theoriegebilde auftürmen würden, die für das Leben und die Gesellschaft ohne jegliche Relevanz seien.
Nur um dies klarzustellen: Der Graben müsste gar nicht so gross sein wie er scheint. Die Philosophie kann sehr wohl etwas über das Wesen und Treiben der Naturwissenschaft aussagen, so wie es beispielsweise Michael Esfeld in seinem Buch «Naturphilosophie als Metaphysik der Natur» tut. Und natürlich kann auch die Evolutionsforschung und die Biologie Erklärungsansätze für soziologische Phänomene oder linguistische Theorien liefern.
Woher kommt es aber, dass die beiden vermeintlichen Lager, sich oft mit so wenig Respekt und Verständnis begegnen? Hier sind drei Erklärungsversuche.
1. Vermittlung fördert nicht zwingend das Verständnis
Was die einen von den anderen wissen und lesen, hat meist nur noch wenig mit dem eigentlichen Forschungsgegenstand zu tun. Kaum ein Geisteswissenschafter macht sich de Mühe, einen Nature-Artikel zu lesen, abgesehen davon, dass er wahrscheinlich sowenig verstehen würde wie ein Molekularbiologie, der sich Heideggers Sein und Zeit zu Gemüte führt. Was den anderen jeweils erreicht, ist nur noch vermittelt und nicht mehr unmittelbar. Ungenauigkeiten und Missverständnisse im Dialog zwischen den Lagern sind damit vorprogrammiert.
2. Buhlen um Aufmerksamkeit und Fördergelder
Wissenschaft und Forschung sind hoch subventioniert. Wer die Aufmerksamkeit der Medien und der Politik hat, darf damit rechnen, dass sein Forschungsgebiet auf der Forschungsagenda weit nach vorne rückt. Eine treibende Kraft der Forschungsförderung ist die Angst: Die Angst vor dem Klimawandel, vor Gentechrisiken, vor der Übervölkerung der Erde, der Islamisierung Europas, vor einer Brutalisierung der Jugend etc. etc. Wo die Angst sich festsetzt, wird nach Forschung gerufen. Im Kampf um Aufmerksamkeit sind Übertreibungen, Abkürzungen und Plattitüden schnell zur Hand. Der Zweck scheint für viele Wissenschafter zwar die Mittel zu heiligen. Aber der Kampf um Fördergelder und Subventionen ist zunehmend hart geworden. Dies wirkt sich auf den Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften negativ aus. Neid lauert an jeder Ecke.
3. Streitlust und Rechthaberei
Noch immer hat die Wissenschaft einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Wer Wissenschafter ist, hat Glaubwürdigkeit und dies wird ihm auch tagtäglich vermittelt. Das tut zwar gut, führt aber auch zu einer gewissen Überheblichkeit Andersdenkenden gegenüber. Die Debatte gehört zum täglichen Brot der Wissenschaft und damit verbunden auch eine gewisse Streitlust. Zusammen mit dem Hang zur Überheblichkeit ergibt sich daraus nicht gerade die ideale Voraussetzung, um friedlich mit Andersdenkenden zu debattieren.
Zum vertrackten Verhältnis ein Veranstaltungstipp:
Öffentliche Preisverleihung «cogito-Preis 2008» an Prof. Dr. Michael Esfeld:
Die philosophische Herausforderung der Naturwissenschaften
Könnte es nicht sein, dass es nicht nur den hier so schmerzlich gefühlten Graben zwischen den Wissenschaften vom „Geist“ und jenen von der „Natur, sondern ein ganzes Grabensystem gibt, das die Verständigung behindert? Und zwar grad auch innerhalb der beiden vermeintlich in sich zusammengehörenden Reiche? Allein schon die oft ziemlich hermetisch wirkenden, aber angeblich für die innerfachliche Verständigung nötigen Terminologien, mit denen sich die einzelnen Fächer ihre Eigenständigkeit befestigen, sind kunstvoll aufgerichtete Hindernisse. Da muss sich auch ein williger Adept schon ganz schön anstrengen, bis er diese Mauern zum verlockenden neuen Land wenigstens so weit durchgebissen hat, dass er ein bisschen Licht sieht (erst recht, wenn es sich dabei um einen flüchtigen Gast in Gestalt eines einfachen Wissenschaftsjournalisten handelt, der laufend die Kost wechseln muss).
Die Zeiten, wo ein(e) Einzelne(r) sich noch einer umfassenden Weltschau rühmen konnte und durfte, sind wohl längst vorbei. Zwar gibt es wohl noch Polymathen , aber die wirken in unserer Expertokratie, wo eben grad der Spezialist gefragt ist, schon wie exzentrische Originale.
Klar darf man weiterhin in ökumenischen Wissenschaftsveranstaltungen nach einem Pfingstereignis rufen, das die babylonische Verwirrung aufhebt, oder nach Brückenbauer(inne)n, die unsere schmerzlich getrennten Königskinder wieder zusammenbringen sollen. Aber vielleicht ist es auch normal, dass jede(r) am besten bei seinen Leisten bleibt und höchstens zu seiner eigenen permanenten Weiterbildung und Dehnung des Horizonts ab und zu mal einen unvoreingenommenen Blick in die Werkstadt anderer Geistesarbeiter(innen)wirft. Sind sie doch ohnehin eigentlich alle.
Peinlich ist aber tatsächlich, wenn man sich zur eigenen Distinktion dann gegenseitig verächtlich macht. Die Versuchung dazu ist wohl dann am grössten, wenn es darum geht, ein rechtes Stück am nie satt machenden Kuchen zu ergattern. Ist der verteilt, kann man ja wieder normal miteinander verkehren.
Ich würde ohnehin weder die einen noch die andern unterschätzen. Durchaus möglich, dass auch ein Molekularbiologe und erst recht eine Molekularbiologin bei Heidegger eine Heimat hat, und zweifellos gibt es auch auf der andern Seite manche Köpfe, die sich lustvoll für die sogenannt exakten Wissenschaften interessieren (die Quelle muss ja nicht grad unbedingt „Nature“ sein) und da auch mehr wissen, als das Vorurteil es vermutet. Im Grunde arbeiten ja alle am grossen Werk – die Welt zu verstehen. Jede(r) auf seine Weise.