Sich ab und zu den Wissenshorizont durch Grasen jenseits des naturwissenschaftlichen Zauns zu erweitern, kann nicht schaden. Dachte ich. Mein jüngster Effort belehrt mich eines Besseren.
Geladen war ein renommierter Redner, der gemäss Wikipedia nicht nur «als Vertreter der Systemtheorie … eine Vielzahl von soziologischen Gebieten und Fragestellungen durchdrungen», sondern auch unzählige Texte und Bücher zu Themen wie «Form und Formen der Kommunikation» oder «Information und Risiko in der Marktwirtschaft» verfasst hat. Die Koryphäe weilte zu Gast an der ETH, um über «Wissen und Nichtwissen in Organisation und Gesellschaft» zu sprechen.
So ein Vortrag könnte gerade mir als Naturwissenscahftler, der ich mich als Kommunikationsbeauftragter des politisch und gesellschaftlich umstrittenen NFP 59 (Nutzen und Risiken der Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen) immer wieder mit dem Nicht-Wissen und oftmals auch dem Nicht-Wissen-Wollen der Bevölkerung konfrontiert sehe, sicher einiges an Erklärungen bieten. Warum zum Beispiel weite Teile der Bevölkerung gar nicht daran interessiert sind, was das NFP 59 an neuem Wissen produziert, sondern nur ihr altes (Nicht-)Wissen bestätigt haben wollen.
Der Gelehrte redete frei, gab geistes- und sozialwissenschaftliche Definitionen zum Besten und zitierte fleissig gescheite Geister wie Walter Benjamin oder den britischen Mathematiker, Psychologen, Dichter, Songwriter und Schachmeister George Spencer-Brown.
Ich war gespannt, welche Schlüsse der Referent aus diesem Fundus an Wissen ableiten würde, besonders was das Nicht-Wissen anbelangt. Er jedoch vermied es, sich mit konkreten Fragen auseinanderzusetzen. Ich drohte wegzudösen.
Bis mich einer seiner Sätze wie Donner traf: «Alles was wir aus der Vergangenheit lernen können ist, dass sich die Zukunft nicht vorhersagen lässt.»
Das weckte nicht nur mich, sondern auch Widerspruch. «Was er denn von den Naturwissenschaften halte», fragte ich, «die aus Beobachtungen der Gegenwart und Analysen der Vergangenheit Regeln ableiten und daraus Prognosen für die Zukunft erstellen?» Ich führte Beispiele an: Seit Isaac Newton fiel der Apfel immer vom Baum herunter, nie hinauf; wird es also künftig wohl auch so tun. Gemäss IPCC war der CO2-Gehalte der Atmosphäre immer mit warmem Erdklima verbunden; also wird ein weiterer Anstieg dieses Treibhausgases zu einer Klimaerwärmung führen. Und: viele Jahre Erfahrung mit gentechnisch veränderten Pflanzen zeigen, dass diese nicht wie Monster über Mensch und Umwelt herfallen; dies also auch in Zukunft eher nicht tun werden. Natürlich, so schränkte ich ein, gelte nichts von alldem mit absoluter Sicherheit, aber immerhin (abhängig von der zur Verfügung stehenden Beobachtungszeit des Phänomens) mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Dies zeige meiner Meinung nach sehr wohl, dass man aus der Vergangenheit etwas für die Zukunft lernen könne.
Zuerst war der Systemtheoretiker verblüfft, dann kondolierte er mir schliesslich zu meiner Aufgabe, der Bevölkerung nicht nur Risiken, sondern auch Nutzen gentechnisch veränderter Pflanzen vermitteln zu müssen. Weiter gestand er den Wetterprognosen doch eine recht gute Trefferquote für die nächsten vier, fünf Tage zu, holte dann aber zum Beweis seiner Behauptung aus. Er argumentierte mit den Klimamodellen des IPCC die «bekanntlich auch in Wissenschaftskreisen höchst umstritten» seien. Er kritzelte eine exponentiell ansteigende Kurve an die Wandtafel und führte aus, dass «die Wachstumsprognosen für die Weltbevölkerung dauernd nach unten korrigiert werden». Und dann schwadronierte er über DNA, den genetischen Code, sowie die Erinnerungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit einer Zelle bei der Interpretation dieses Codes und so weiter.
Wo sie nicht offensichtlich falsch waren, verstand ich von den naturwissenschaftlichen Ausführungen des Soziologen soviel, wie er wohl verstanden hätte, wenn ich über Systemtheorie geredet hätte. Trotzdem bedankte ich mich für die Erläuterungen und hakte nach: «Warum wollen viele Menschen lieber nicht-wissen als wissen?»
«Nicht-Wissen ist ein Schutz», lautete die Antwort.
«Wie wahr», sagte ich nicht, sondern dachte es nur.
Und nahm mir vor, zwei Titel aus der langen Publikationsliste des Systemtheoretikers genauer anzusehen. Als da wären: «Nie wieder Vernunft» (Carl-Auer, Heidelberg 2008) und «Wozu Soziologie?».(Berlin 2004).
Veranstaltungshinweis: Das Kolloquium des Zentrums «Geschichte des Wissens» zum Thema «Nicht-Wissen» findet statt jeden zweiten Donnerstag, 18.15 – 19.45 Uhr im Seminarraum an der Rämistrasse 36 in Zürich. Nächster Termin: 23. Oktober.
Danke für diesen erhellenden Beitrag, wobei ich nicht ganz verstehe, wieso Du dir noch die Mühe machen willst, ein Laborat dieses Herrn Baeckers zu lesen. Die Mühe würde ich mir sparen.
Ich gestehe, dass ich den Herrn nicht kenne und die Liste meiner Wissenslücken oder meines Nicht-Wissens lang ist, aber wenn ich Dich recht verstehe, denkst Du, wenn man die bisherigen Erfahrungen extrapoliere, finde man Zuverlässiges über zukünftige Entwicklungen heraus. Das mag in den von Dir gezeigten Beispiel geklappt haben. Verallgemeinern würde ich das nicht. Ich könnte mir denken, dass der Vortragende als Soziologe vielleicht mehr an gesellschaftliche Zukunft denkt, und da sind halt schon viele auf vermeintlich verlässliche Extrapolationen bisheriger Vorgänge gestützte Voraussagen wirkluch nicht eingetroffen. Ich denke da etwa an Malthus‘ Pferdemist oder all die rosigen Prognosen vor hundert Jahren oder so, als die Elektrizität aufkam. Als das WWW erfunden wurde, haben am Anfang auch nur wenige geglaubt, dass sich mal sozusagen alle im Internet bewegen werden. Komplexe Systeme, dazu gehört ja unsere technische Gesellschaft, sind eben für einige Überraschungen gut. Das wird wohl (Achtung Voraussage!) so bleiben. Was allerdings nicht heisst, dass man darauf verzichten sollte, über die Zukunft nachzudenken und sie nach bestem Wissen zu gestalten versuchen. (Zum Beispiel den CO2-Ausstoss zu bremsen, weil es eben ziemlich warm wird oder mindestens werden könnte.)
Okay, Freunde. Meine Glosse war offenbar nicht ganz klar. Was beweist, dass Ironie etwas vom Schwierigsten ist.
Zu Stefan Stöcklin: natürlich werde ich mir die Arbeiten „Nie mehr Vernunft“ und „Wozu Soziologie“ nicht vornehmen. ich habe ja meine persönliche Antwort darauf schon gefunden.
Zu Martin Hicklin:
Ich habe mich darüber genervt, dass der Soziologe solch pauschale Aussagen macht wie „die Vergangenheit lehrt uns, dass die Zukunft nicht vorhersagbar ist“.
Wenn ich ihn dann auf die Unterschiede zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft aufmerksam mache (also das, was du auch anmerkst) versucht er mir mit völlig falschen naturwissenschaftlichen Beispielen klar zu machen, dass Er doch recht hat. Das kreide ich ihm an.
Und – weshalb ich auch so geladen war nach dem Seminar – dass sich die Geisteswissenschaftler offenbar gezielt unverständlich ausdrücken.
Wenn ein Biologe in einem Seminar 1) nur Grundregeln der Biologie zum besten gibt 2) auf alle Fragen ausweichend antwortet, dann taugt das Seminar nichts.
Offenbar ist das aber bei den Geisteswissenschaftlern Bestandteil des Selbstverständnisses. Denn ausser mir hat sich anscheinend niemand über diese Dinge aufgehalten.
Gut, ich war ja nicht dabei, und hab mir vielleicht da eine differenziertere Person vorgestellt, die es in diesem Spiel gar nicht gibt. Immerhin kannst Du Dich noch ärgern, das seh ich positiv.